| Landeskirche

Pilgern hat sich sehr verändert

Jürgen Rist spricht mit elk-wue.de darüber, was ihm Pilgern bedeutet

Wer heute pilgert will sich aus dem stressigen Alltag befreien, abschalten, die Schöpfung genießen und sich von spirituellen Orten inspirieren lassen, sagt Diakon Jürgen Rist. Der Pilgerbeauftragte der Landeskirche spricht im Interview mit elk-wue.de darüber, was Pilgern heute heißt und was es ihm bedeutet. Pilgern? Das geht auch in Corona-Zeiten. Allerdings anders als gewohnt.

Jürgen Rist auf dem Martinsweg. Er zitiert den Theologen Peter Zimmerling: „Pilgern hilft evangelischer Spiritualität, den kontemplativen Aspekt neu zu erschließen."privat

Pilgern in Corono-Zeiten. Geht das?
Derzeit erfahre ich, dass vermehrt einzelne Pilger unterwegs sind. Aber nur einzelne Tage und auf regionalen Pilgerwegen. Wir von "Kirche in Freizeit und Tourismus" hoffen, dass wir für den Herbst selbst wieder Tagesangebote machen oder die geplanten Angebote durchführen können. Aber die Nähe, die wir normalerweise in den Pilgerherbergen erfahren und die uns so wichtig ist, wird so in nächster Zeit noch nicht herzustellen sein.


Pilgern boomt. Seit Jahren schon. Und auch in Corona-Zeiten sind Pilger unterwegs, vor allem einzeln, nur tageweise und auf regionalen Pilgerwegen. Elk-wue.de stellt in diesem Jahr in unregelmäßigen Abständen Glaubens- und Pilgerwege vor und spricht mit Menschen über ihre Pilgererfahrungen.


Martin Luther verglich das Pilgern mit dem Ablasshandel. Als Norwegen den Protestantismus annahm, wurde Pilgern sogar mit der Todesstrafe bedroht. Heute betreuen Sie als Referent der Landeskirche den Schwerpunkt Pilgern. Was ist daran evangelisch?
Das Pilgern hat sich ja sehr verändert. Da geht es nicht mehr um Ablasshandel. Es hat auch häufig nicht mehr den Charakter einer Bußpilgerfahrt, die dazu dient, ein religiöses Gebot, eine Buße oder ein Gelübde zu erfüllen.

Sondern?
Wer heute pilgert, will sich aus dem stressigen Alltag befreien, abschalten, die Schöpfung genießen. Er oder sie will vielleicht erleben, wie unterschiedlich Menschen ihren Glauben leben oder sich von spirituellen Orten wie Kirchen oder Klöster inspirieren lassen. Wenn ich mit einer Gruppe in der Martinskirche in Neckartailfingen ankomme – einer 900 Jahre alte romanische Säulenbasilika – und wir stimmen ein Taizélied an, dann bringt das etwas zum Schwingen. Der Theologe Peter Zimmerling sagt, das Pilgern hilft evangelischer Spiritualität, den kontemplativen Aspekt neu zu erschließen.

Pilger bekommen leichter Zugang zu der spirituellen Dimension ihrer persönlichen Fragen.    

Jürgen Rist

Was heißt das?
Der Freiraum von Alltagsverpflichtungen ermöglicht es Pilgerinnen und Pilgern, Probleme nicht länger zu verdrängen, sondern sie offen und angstfrei wahrzunehmen. Gleichzeitig eröffnet sich den Pilgernden ein Raum der Stille. So können sie besser auf Gott hören als im Lärm des Alltags. Sie bekommen leichter Zugang zu der spirituellen Dimension ihrer persönlichen Fragen.  

 

Ein Foto aus dem Jahr 2018. Eine Pilgergruppe im Gottesdienst in Winnenden.privat

Pilgern hat eine lange Tradition, die bis in die Antike reicht. Hilft das den Pilgerinnen und Pilgern heute?
Mir geht es da wie vielen anderen auch. Es berührt mich, wenn ich weiß, dass über Jahrhunderte hinweg Tausende von Menschen diesen gleichen Weg gegangen sind. Ich fühle mich dadurch hineingenommen in die Gemeinschaft der Pilger. Tradition hat in diesem Fall nichts Schweres, eher etwas Mutmachendes, Beflügelndes, Stärkendes. Erst recht, wenn Sie dann beispielsweise bei der Aussendung der Pilger in Le Puy-en-Velay in der französischen Region Auvergne dabei sind. Dort beginnen oft 100 oder 150 Pilgerinnen und Pilger am Tag ihren Jakobsweg. Und wenn dann die Namen der Pilger verlesen werden und die Länder, aus denen sie kommen, dann hat das schon einen Gänsehautfaktor. 

So eng, wie hier bei dieser Männergruppe, darf es in nächster Zeit nicht zugehen. Schade. Es werden neue Formen der Nähe gefunden werden müssen.Klaus Schmückle

Muss man eigentlich religiös sein, um zu pilgern?
Nein, muss man nicht. Diejenigen, die aus religiösen Gründen pilgern, sind klar in der Minderheit. Manche machen das aus sportlichen Gründen, andere suchen das Abenteuer, fast alle die Einfachheit und die Natur. Viele brechen an Lebensübergängen zum Pilgern auf.  Etwa in der Lebensmitte, um was Neues zu planen. Andere tun das am Übergang zu ihrem Ruhestand, um bewusst oder unbewusst Bilanz zu ziehen. Wieder andere haben das Bedürfnis, sich mit ihrer Geschichte oder ihrem Lebensentwurf auszusöhnen. Dabei hilft ihnen die gleichmäßige Bewegung in der Natur, zu sich zu kommen. Vielen hilft das auch, sich zu öffnen. Eine wertvolle Gemeinschaft auf Zeit entsteht. Übrigens auch durch die Einfachheit. Deshalb ziehen die allermeisten das spartanische Sechs- oder Acht-Bett-Zimmer einer Übernachtung im Hotel vor, obwohl sie sich das leisten könnten.

Sie bieten sogar eine Ausbildung zum Pilgerbegleiter an. Warum brauchen Pilger Begleitung - und wie sieht die aus?
Wir bieten diese Ausbildung an, weil immer mehr Menschen zum Pilgern aufbrechen, die meisten übrigens allein. Wir nehmen die Fragen auf, die diese Menschen bewegen, zum Beispiel: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn in meinem Leben? Pilgern ist für uns eine Form der Erwachsenenbildung, um mit Leuten unterwegs Lebensthemen zu bearbeiten. Dazu machen wir unterschiedliche Angebote. Tagespilgertouren am Sonntag für diejenigen, die mal ins Pilgern reinschnuppern wollen; Pilgerwochenenden für Männer, für die der Übergang vom Beruf in den Ruhestand ein Thema ist; Pilgern für Frauen zum Thema „Aufbruch zu neuen Wegen“; Saft- und Kraftpilgern zu den Fragen: Woher nehme ich meine Energien und wie gehe ich mit Energieräubern um? Um nur einige zu nennen. Und wir entwickeln dazu Liturgien und Wahrnehmungsübungen, auf die man sich einlassen kann, wenn man das möchte.

Ein Foto aus Vor-Corona-Zeiten. Derzeit heißt es: Abstand halten. Aber es geht, einzeln, mit dem Partner oder der Familie und als Tagestour. Klaus Schmückle

Man sagt so schnell: der Weg ist das Ziel. Oder ist es vielleicht doch das Ankommen?
Ich finde es schon wichtig, auf ein Ziel zuzugehen. Der Weg ist dann das Medium, das mir hilft, zu mir zu kommen. Aber ich mache mir durchaus Gedanken, wie ich dann die Ankunft gestalte. Manche brechen ja zusammen, wenn sie in Santiago de Compostela, dem Ziel des Jakobsweges, ankommen. Andere umarmen dort die Jakobusstatute. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht, welche für mich angemessene Form ich dafür finden werde, aber ich will auf jeden Fall meine Ankunft am Ziel feiern.

Welche Pilgertour hat Sie am meisten beeindruckt?
Ein Weg mit Hauptamtlichen von Konstanz nach Genf. Es hat mich schon bewegt, zusammen nach acht Tagen mit 22 anderen auf die Kathedrale St. Peter in Genf zuzulaufen. Eine Mitpilgerin hat mir später geschrieben, dass die Lieder und Gebete, die ich für diese Tour zusammengestellt habe, inzwischen Eingang in ihren Alltag gefunden haben. Auch ich habe das Pilgern in mein Leben integriert, etwa durch regelmäßige, meditative Spaziergänge. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn ich mich achtsam in der Schöpfung aufhalte, finde ich meine Identität als Geschöpf Gottes. Das führt mich in die Ruhe und Gottesbegegnung und gibt mir Kraft.  

Was glauben Sie: Wird man in zehn Jahren noch pilgern?
Ja, davon bin ich überzeugt. Und ich glaube auch, dass die Landeskirche das Angebot der Pilgerbegleitung weiter aufrechterhalten wird, auch wenn ich irgendwann in den Ruhestand gehe.


Stephan Braun



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