SPI-Studie
SPI-Studie "Wirkfaktoren für das Gelingen von Fusionen von Kirchengemeinden"
Ziel
der im Jahr 2019 durchgeführten Studie war es erstens herauszufinden, wie sich Fusionen in Kirchengemeinden auswirken auf a) Strukturen-Verwaltung-Prozesse, b) Bindung-Beteiligung der Aktiven sowie c) Aktivitäten-Angebote-Gottesdienste-weitere Arbeitsfelder in der Kirchengemeinde. Zweitens sollte aus den Erkenntnissen abgeleitet werden, welche Vorteile oder Nachteile eine Fusion mit sich bringt. Ergebnis der Studie sollten Wirkfaktoren für das Gelingen von Fusionen sein.
Ausgangspunkt
bildeten die seit 2013 durchgeführten Fusionen. Die bis dato in den Kirchengemeinden (sowie einem Kirchenbezirk) gemachten Erfahrungen sollten in der Studie gesammelt und gebündelt werden. Die abgeleiteten Wirkfaktoren sollen zukünftig eine solide Grundlage für künftige Fusionsprozesse liefern.
Herangehensweise
Es wurde eine qualitative Studie durchgeführt, die die Sicht der Interviewten in den Mittelpunkt stellt. In 6 Vor-Ort-Interviews und 5 Telefoninterviews wurde ein teilstandardisierter Fragebogen mit 21 zumeist offenen Fragen angewandt. Die Fragen wurden aus eingangs aufgestellten Hypothesen und Modellen abgeleitet. Die Auswahl der teilnehmenden Kirchengemeinden erfolgte nach folgenden Kriterien: unterschiedliche oder gleiche Größe der ursprünglichen Gemeinden, Unterschiedlichkeit in den Herausforderungen zu Beginn, Gemeinden in städtischen und ländlichen Räumen, Gemeinden mit und ohne vorherige Kooperationserfahrung, Gemeinden, in denen eine gute Anzahl der Interviewten auch das Vorher - Nachher einschätzen konnte.
Ergebnisse
Es konnten aus den Interviews insgesamt neun Wirkfaktoren extrahiert werden. Diese sind: Vertrauen, Haltung(en), Qualität des Beginns, Kirchen- und Gemeindeverständnis, Steuerung des Fusionsprozesses (vor Ort), Ablauf der Fusion (Prozess), Begleitung/Unterstützung, der Tausch und die Option Lebensfähigkeit. Jeder einzelne Wirkfaktor stellt wiederum ein ganzes Bündel von Aspekten dar die zu verschiedenen Zeitpunkten im Prozess der Fusion unterschiedliches Gewicht haben.
Ertrag und Nutzen für die Evangelische Landeskirche Württemberg
Zunächst bleibt festzuhalten: In der Evangelische Landeskirche Württemberg gelingen Fusionen, und das aus gutem Grund! Es gelingt, sowohl mit kulturellen Unterschieden umzugehen als auch Organisationsroutinen (mit ihren Regelwerken) zusammenzuführen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass alle Beteiligten nicht der Gefahr erliegen, eine Fusion auf die technischen und kulturellen Fragen im Sinne von Gewohnheiten zu fokussieren. Es wird zukünftig verstärkt der Aufmerksamkeit für die Lebens- und Reproduktionsfähigkeit von Kirche bedürfen: „Fusion ermöglicht, über die Voraussetzungen nachzudenken, von denen Kirche lebt“ – so wurde es in einem Interview treffend auf den Punkt gebracht.
Mit Blick auf die eingangs in den Zielsetzungen formulierten zwei Anliegen (Auswirkungen auf verschiedene Ebenen in Kirchengemeinden sowie Vor- und Nachteile einer Fusion) seien einige wesentliche Erkenntnisse kurz dargestellt:
- Im Bereich der „Strukturen-Verwaltung-Prozesse in der Kirchengemeinde" zeigt sich, dass in den größer gewordenen Kirchengemeinden die Bedeutung von Organisationsfragen aus der Sicht der gemeindlichen Arbeitsgruppen, Initiativen und Netzwerke für die Koordination der Aufgaben zunimmt. Die Kirche entwickelt sich (nicht nur an dieser Stelle) zunehmend von einer Institution zu einer Organisation. Es entstehen in den größeren Einheiten Teams, die sich als Organisationseinheit verstehen und dann stärker als Kollektiv gegenüber der Landeskirche auftreten. Hier werden strategische Fragen (Schwerpunktsetzungen, Ressourcenthemen und Kompetenzentwicklung) zukünftig wohl eine größere Rolle spielen. Diese stärkeren Kollektive werden ihrer Rolle als Feldkenner Gewicht verleihen und möglicherweise eine Kommunikation wünschen, die stärker nach einer Logik der „Führung in Partnerschaft“ (als nach einer Verwaltungslogik) agiert.
- Im Bereich „Bindung-Beteiligung der Aktiven in der Kirchengemeinde" ergibt sich ein zweiseitiges Bild: Manche ziehen sich in der Phase der Fusion zurück, weil sie diesen Weg nicht (mehr) mitgehen können; andere sehen eine gute Gelegenheit, ihre Kompetenzen neu oder stärker einzubringen. Grundsätzlich wird die größere Vielfalt, die durch die neue Größe, die neue Kombinierbarkeit von Ressourcen etc. entstanden ist, von den Gesprächsbeteiligten als positiv wahrgenommen. Sie wird als Chance zur Förderung der Lebensfähigkeit gesehen.
- Im Bereich „Aktivitäten-Angebote-Gottesdienste-weitere Arbeitsfelder" machen die Ergebnisse deutlich, dass eine Fusion hier positiven Einfluss hat. Es wurde in den Interviews eindeutig bestätigt, dass größere Einheiten und größere Teams mit unterschiedlichen Kompetenzen die Andockmöglichkeiten für alle erhöhen. Der Großteil der Kirchengemeinden ist in Bezug auf die Gelegenheiten, die sie damit für Menschen zum Andocken bieten, nun noch breiter aufgestellt.
Ein großer Vorteil von Fusionen ist vor allem die strukturelle und rechtliche Klarheit bzw. Eindeutigkeit. Zudem tritt auf Ebene der Hauptamtlichen im Nachgang zumeist eine Entlastung ein, beispielsweise durch gegenseitige Vertretungen, Schwerpunktsetzungen in einzelnen Aufgabenfeldern etc..
Ein Nachteil von Fusionen zeigt sich während des laufenden Fusionsprozesses. Hier entsteht ein deutlicher Mehraufwand für Haupt- und Ehrenamtliche neben dem „laufenden Geschäf". Auch beim Zeitpunkt und der Breite der Beteiligung der Gemeindeglieder treten bisweilen Unsicherheiten auf. Eine gute Begleitung kann hier deutlich zur Entlastung während des gesamten Prozesses beitragen. Im Nachgang einer Fusion bleibt es zudem eine wichtige Aufgabe, die Möglichkeiten und Chancen der größeren Gemeinde ALLEN Gemeindegliedern (aktiv und passiv) wahrnehmbar zu machen.
Empfehlungen
Die Erkenntnisse der Studie und die Wirkfaktoren können zukünftig auf vielen Ebenen nutzbar gemacht werden. Wenn sich künftige Beteiligte zu Beginn einer Fusion die neun Wirkfaktoren bewusst machen und deren Bedeutung für ihre Kirchengemeinden erkunden, dann haben sie im Vorfeld jene Aspekte angesprochen, die aus der Sicht der bisherigen Fusionen nicht ignoriert werden sollten.
Eigenständigkeit und Einheit in Vielfalt ermöglichen!
Gut gemacht ist jede Fusion etwas anders, geht einen individuellen Weg und führt zu spezifischen Konstellationen in den verschiedenen Feldern der künftigen Arbeit mit der je gewünschten eigenen Balance von Bewahren, Zusammenfügen und Neugestalten. Eine neue ‚eigene Gemeinde-Persönlichkeit‘ wird gemeinsam geformt.
Beratung und Begleitung fortführen!
In den Interviews wurde berichtet, dass die Unterstützung und Begleitung des Projekts S-P-I in Form der Komplementärberatung eine gelungene Supporteinrichtung darstellt. Sie bildet zudem innerhalb der Landeskirche eine Drehscheibe für Lernen und ermöglicht relevante Erkenntnisse über die Kirche. In zukünftige Beratungen können die Wirkfaktoren für die unterschiedlichen Zielgruppen einfließen.
Umfassendes Lernen und Austausch fördern!
Bei einem flächendeckenden Wandel, wie er stattfindet, macht es Sinn, die Lernmöglichkeiten auf alle beteiligten Gemeinden auszuweiten. Dazu könnte auf drei Modelle zugegriffen werden (ein System kollegialer Beratung, ein „Action Learning Programm", eine „Community of practice"), denen gemeinsam ist, den angeleiteten Austausch untereinander zu fördern und verbindlich zu etablieren.
Starke Leitung und Führung in Partnerschaft leben!
Dem Vertrauensaufbau dient die klar kommunizierte Verantwortungsübernahme für die Rahmensetzung möglicher Fusionen, verbunden mit der Darstellung der Restriktionen (Warum empfehlen wir diesen Weg?) und der Chancen (Wozu können Fusionen nützlich sein?). Denn Fusionen sind kein Selbstzweck, sondern EIN Mittel, um die Lebens- und Reproduktionsfähigkeit von Kirche zu fördern.
Zwei Welten – doppelte Entlastung spüren!
Wer am „Projekt Fusion von Kirchengemeinden" arbeitet und dabei alles Menschenmögliche versucht, sollte stets zwei Handlungsräume mitdenken: Den Handlungsraum Gottes und den Handlungsraum der Menschen. Der Handlungsraum Gottes ist für Menschen nicht verfügbar - ebenso wie der Handlungsraum der Menschen diesen letztlich nicht vollkommen verfügbar ist. Aber alle sind eingeladen, ihr Bestes zu geben. Diese zwei Handlungsräume bzw. Welten ermöglichen eine doppelte Entlastung: Wir dürfen gewiss sein, dass wir im Tun getragen und in der Ratlosigkeit gehalten sind. Auch das wurde in den Interviews von den Gesprächsbeteiligten „zwischen den Zeilen“ immer wieder als entlastende Erfahrung mitgeteilt, wofür sie den Dank für ihr Vorausgehen verdienen