Am kommenden Samstag, 5. März, endet die 22. Stuttgarter Vesperkirche mit einem Gottesdienst. Wenige Tage zuvor haben die Verantwortlichen Bilanz gezogen. Sie berichten von überwältigender Unterstützung und von immer offensichtlicherer Armut.
„Wir haben in der Vesperkirche 2016 wieder eine enorm breite Solidarität und finanzielle Unterstützung erfahren“, bilanziert Diakoniepfarrerin Ott. Sie leitet die Stuttgarter Vesperkirche, die 1995 von Martin Friz ins Leben gerufen wurde, zum achten Mal. Die über 800 Ehrenamtlichen – „Männer, Frauen, Schüler, Jugendliche und Azubis“ und die große Spendenbereitschaft, teils verbunden mit bunten Solidaritätsaktionen, gehören für Ott zur „Erfolgsseite“ der Vesperkirche. Die materielle Unterstützung reiche von Geldspenden über die Kuchenspenden von Schulen und Gemeinden bis hin zur Mitarbeit und Spendenübergabe von VfB-Profis – „das war ein Highlight für viele Gäste“, freut sich Ott.
Auf der anderen Seite werde Armut immer offensichtlicher. Zehn Jahre nach der Einführung von Hartz IV bedeute Armut eine immer größere Belastung für Leib und Seele. „Wenn die Waschmaschine kaputt geht oder neue Winterschuhe hermüssen, bedeutet das Stress“, beobachtet Ott. 2016 wurden in der Stuttgarter Vesperkirche täglich durchschnittlich 610 Essen ausgegeben, im Vorjahr lag dieser Wert noch bei 592 Portionen pro Tag. Diakoniepfarrerin Ott schließt daraus: „Die Armut hat sich in unserer reichen Stadt auf hohem Niveau verfestigt.“ Viele Arme profitierten nicht von der guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Die Erhöhung der Arbeitslosengeld-2-Sätze (ALG 2) halte mit der Preisentwicklung im teuren Stuttgart nicht Schritt.
Um dem Skandal der Armut in der reichen Stadt entgegenzutreten, ist letztlich die Politik gefragt.
Für Kirchenkreis-Diakoniedekan Klaus Käpplinger geht es in der Vesperkirche um ein zutiefst christliches Anliegen. Eine der zentralen Botschaften der Bibel sei: „Du, Gott, siehst mich“. Um die Wahrnehmung und Würdigung von Menschen in schwierigen Lebenslagen und am Rand der Gesellschaft gehe es auch in der Vesperkirche. Besonders erfreulich ist für den eingefleischten VfB-Fan Käpplinger, dass sowohl die VfB-Profis als auch der Fanclub Commando Cannstatt sich in diesem Jahr für die Vesperkirche eingesetzt hätten. „Das sind wichtige Multiplikatoren, die das Anliegen der Vesperkirche in die Stadt tragen“, sagt Käpplinger. Die Vesperkirche sei nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Um dem Skandal der Armut in der reichen Stadt entgegenzutreten, sei letztlich die Politik gefragt. „Es braucht politisches Handeln für bezahlbaren Wohnraum, für einen Schuldenschnitt für Überschuldete, für Gesundheitsversorgung für Arme und für einen zweiten Arbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen eine neue Chance gibt“, ist Käpplinger überzeugt. Darauf hinzuweisen, dazu sei die Vesperkirche da.
Die aktuelle Flüchtlingskrise ist nicht spurlos an der Vesperkirche vorübergegangen. Gruppen von osteuropäischen Armutsflüchtlingen haben an manchen Tagen viel Platz in der Kirche in Anspruch genommen. Die schlechten sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten und auch kulturelle Unterschiede seien eine konfliktträchtige Mischung gewesen. „Das sind Menschen aus EU-Staaten, die bei uns durch das soziale Netz fallen“, beobachtet Ott. Man sei die Herausforderung ganz praktisch angegangen. Da beispielsweise kaum ein Vesperkirchenmitarbeiter rumänisch spreche, viele Rumänen aber Französisch oder Spanisch beherrschen, habe man sich in diesen Sprachen verständigt. So sei Kommunikation möglich und mancher Konflikt entschärft worden.
Und was ist die Bilanz der Ehrenamtlichen nach der 22. Vesperkirche? „Es ist einerseits schade, dass es auch nach 22 Jahren noch die Vesperkirche braucht“, sagt Hans-Jürgen Grünefeld, der von Anfang an dabei ist. Andererseits sei die Vesperkirche „eine fantastische Sache“. Die vielen ehrenamtlichen Mitarbeitenden kommen gerne, Freundschaften entstehen, „und viele sagen nach ihrem Einsatz: Danke, dass ich hier mitmachen durfte“, staunt Grünefeld. Die Ehrenamtliche Steffi Rometsch arbeitet täglich von 8 bis 17 Uhr im Putzteam mit. Sie sagt: „Ich habe selber nicht viel. Aber es macht mir Spaß, anderen zu helfen. Und ich möchte zeigen: Auch wenn Du nicht viel hast, kannst du was machen.“
Da lässt sich eine, die in Armut lebt, nicht unterkriegen. Vielleicht ist es das, was Diakoniepfarrerin Ott meint, wenn sie sagt: „Die Vesperkirche will dazu beitragen, dass wir mit vielen kleinen Schritten das Gesicht der Welt verändern.“
Hintergrund Die Vesperkirche finanziert sich aus Spenden. Jährlich werden rund 260.000 Euro benötigt. Zum unterstützen der Vesperkirche bitte folgende Bankverbindung benutzen: IBAN DE05 6005 01010002 4648 33, BIC SOLADEST600.
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