Suizidassistenz: Diakonie fordert Präventionsgesetz und Schutz für Menschen in psychosozialen Krisen
„Leben ist ein Geschenk und grundsätzlich unverfügbar und schützenswert“
Das Diakonische Werk Württemberg wird keine Assistenz zum Suizid anbieten oder praktizieren. Das sagte Oberkirchenrätin Dr. Annette Noller beim Fachtag „Suizidassistenz – Was soll erlaubt sein?“ der Evangelischen Akademie Bad Boll in Stuttgart. Bei der Diskussion über drei Entwürfe für ein Gesetz zur Neuregelung der Suizidassistenz betonte Noller, dass vielmehr dringend ein Gesetz zur Suizidprävention und darin ein flächendeckendes Beratungsangebot für Menschen in suizidalen Krisen auf den Weg gebracht werden sollte.
Dr. Annette Noller, Oberkirchenrätin und Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg.Bild: Gottfried Stoppel
Besonderes Augenmerk muss für die Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg bei der Bewertung der Gesetzesentwürfe auf eine Prüfung psychosozialer Krisen und psychiatrischer Erkrankungen gelegt werden. Menschen, die psychisch erkrankt sind, müssten medizinisch betreut und sozial unterstützt werden. „Sie dürfen nicht unbesehen einen Beratungsschein erhalten, um sich mit Hilfe Dritter das Leben zu nehmen.“
Drei ethische Werte stehen für Annette Noller bei der Diskussion über den assistierten Suizid auf dem Prüfstand. Es seien Fragen der Autonomie und Selbstbestimmung, dazu die Vulnerabilität, Fürsorge und Achtsamkeit und schließlich das Thema Verantwortung in der Gemeinschaft. Den Schwerpunkt allein auf die Selbstbestimmung des Einzelnen zu legen, greife angesichts der Verletzlichkeit von Menschen in psychischen Notlagen und am Ende des Lebens zu kurz.
Dr. Jörg Schneider, Referatsleiter im theologischen Dezernat des Stuttgarter Oberkirchenrats, sagte in einer eigenen Reflexion des Fachtags: „Die Gesetzesentwürfe arbeiten verständlicherweise mit Sammelbegriffen, die im gelebten Leben in den Hospizen, Arztpraxen oder wo auch immer erst noch gefüllt werden müssen. Ein solcher Begriff ist ‚Leben‘. Aus christlicher Sicht ist Leben ein Beziehungsgeschehen. Aber wann geht das zu Ende? Und was heißt Beziehung zum Umfeld der Menschen, die einen assistierten Suizid begehren? Es wäre die Aufgabe von religiösen Menschen und der Ethikkommissionen, das Umfeld mehr mitzusehen und auch zu stärken. Auch ‚Selbstbestimmung‘ ist solch ein Sammelbegriff.
Dr. Jörg Schneider, Referatsleiter im theologischen Dezernat des Stuttgarter Oberkirchenrats
Weiterhin führ Schneider aus: "In den Gesetzentwürfen hat man immer das Bild von Menschen vor Augen, die sehr klar äußern können, was sie wollen. Aber gibt es nicht auch Menschen, die das nicht (mehr) können? Oder die auf andere Weise kommunizieren als in den Gesetzesentwürfen vorausgesetzt? Und schließlich muss man aufmerksam sein, dass man nicht von wenigen Ausnahmen ausgehend allgemeine Dinge rechtlich regelt und für die Zukunft mit weitreichenden Wirkungen festlegt. Das Thema verlangt sehr viel Sorgfalt und Demut.“
Suizidwünsche in 80 bis 90 Prozent der Fälle weder dauerhaft noch frei von psychischen Einschränkungen
Dass Suizidwünsche in 80 bis 90 Prozent der Fälle weder dauerhaft noch frei von psychischen Einschränkungen sind, habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung vom Februar 2020 selbst festgehalten. „Dies zeigt, dass ein dauerhafter, frei gefasster Entschluss zum Suizid nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist.“ Menschen dürften auch nicht unter Druck gesetzt werden, weil ihre Versorgung Geld kostet. Auch hier lägen Zahlen aus anderen Ländern vor, die zeigen, dass Suizidwünsche nicht selten aus dem Gefühl resultieren, anderen zur Last zu fallen. In diesem Zusammenhang weist die Diakonie darauf hin, dass in den Hospizen der Diakonie und auch in einzelnen Pflegeheimen der dringende Wunsch besteht, rechtlich abgesichert ihre Angebote als ‚sichere Orte‘ zu gestalten, in denen grundsätzlich keine assistierten Suizide durchgeführt werden.
Besondere Aufmerksamkeit für Kinder, Jugendliche sowie Menschen in der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie
Besonderes Augenmerk ist nach Worten Nollers auf Kinder und Jugendliche sowie Menschen in der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie zu legen. Für sie müsse es bei Suizidwunsch erweiterte Schutzmechanismen und besondere Präventionsangebote geben. „Hier stellen sich im Blick auf die Einwilligungsfähigkeit und psychische Krisen ebenfalls besondere Herausforderungen.“ Die bisherigen Regelungen zum Schutz dieser vulnerablen Gruppen müssten beibehalten werden.
„Für die Evangelische Kirche und ihre Diakonie ist eine dem Leben zugewandte Haltung maßgeblich. Der Mensch ist ein Geschöpf und Ebenbild Gottes, das Leben ist ein Geschenk und grundsätzlich unverfügbar und schützenswert“, sagte Noller. „Es birgt in jeder Situation die Chance, ein erfülltes, auf Beziehung und Begleitung angelegtes, lebenswertes Leben zu sein.“ Diese Haltung werde in den diakonischen Pflegeheimen und Krankenhäusern und vor allem in der ambulanten und stationären Hospizarbeit gelebt. Ein „lebensunwertes“ Leben gebe es nicht, „auch wenn es unerträgliche Lebensumstände gibt, die zu lindern und seelsorgerlich zu begleiten unsere Aufgabe ist. An dieser Position halten wir als Christinnen und Christen unverrückbar fest“. Dass es ein schmales Feld von Ausnahmen in ausweglosen, gesundheitlichen Krisen geben kann, in denen Menschen in ihrem Wunsch zu sterben unterstützt werden, wird auch von der Diakonie eingeräumt. Dazu brauche es aber klare Regelungen, die strafrechtlich verankert sein könnten.
Flächendeckend fachkundige, kostenlose Beratungsangebote für Menschen mit Suizidwunsch
Jede Form der gesetzlichen Regelung müsse also gewährleisten, dass durch sachkundige Personen sowohl die Dauerhaftigkeit des Wunsches, die Einwilligungsfähigkeit der suizidwilligen Person und vor allem psychiatrische Erkrankungen sowie psycho-soziale Belastungen erkannt und behandelt werden können. Zugleich sollten flächendeckend fachkundige,, kostenlose Beratungsangebote für Menschen mit Suizidwunsch zur Verfügung stehen.
Hintergrund der Veranstaltung
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