„Im Frieden Gottes treten wir wachsam und nüchtern für den Frieden ein“
Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl predigt bei Friedensgebet in Stuttgart
Aus Anlass des Jahrestags des russischen Angriffs auf die Ukraine halten Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl und Bischof Dr. Gebhard Fürst in der Stuttgarter Konkathedrale St. Eberhard am 24. Februar ein ökumenisches Friedensgebet ab, an dem auch Erzpriester Dimitrios Katsanos von der griechisch-orthodoxen Kirche teilnehmen. Landesbischof Gohl hält dabei die Predigt, die Sie im Folgenden lesen können. Im Kontext des Jahrestags haben Landesbischof Gohl, Bischof Fürst und Erzpriester Katsanos auch einen gemeinsamen Stuttgarter Aufruf zum Frieden veröffentlicht, den Sie unten auf dieser Seite finden.
Die Predigt von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl im Wortlaut:
Liebe Schwestern und Brüder,
mich berührt es, dass wir heute, an diesem besonderen Tag des Gedenkens, hier in St. Eberhard in ökumenischer Verbundenheit zusammen beten.
Das macht Mut. Und es gibt Raum für unser Klagen.
Wir beklagen, was vor einem Jahr begann und uns bis heute erschüttert:
Der verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine. Wann wird endlich Frieden?
Gestern vor einem Jahr hofften noch viele, dass es nicht zum Krieg käme. Die westlichen Regierungschefs führten unzählige Telefonate mit dem russischen Staatspräsidenten. Sie gaben sich bei ihm regelrecht die Klinke in die Hand. Doch das Bild des riesigen Konferenztisches war ehrlicher als die Worte Putins. Das Bild mit den beiden Gesprächspartnern an diesem endlos langen weißen Tisch stand für die unüberbrückbare Distanz.
Heute wissen wir: Alle Bemühungen um eine diplomatische Lösung hatten nicht den Hauch einer Chance. Der Überfall der Ukraine war zu diesem Zeitpunkt schon längst beschlossene Sache.
Heute vor einem Jahr folgte dann das bittere Erwachen: Was sich niemand im Westen vorstellen konnte oder wollte, ist geschehen: Die Ukraine wurde von Putins Truppen überfallen. In Europa ist Krieg. Seitdem ist die Welt eine andere.
Die Bilder aus dem brennenden Kiew, die Bilder vom Massaker in Butscha, sie lassen uns nicht los. Zerstörte ukrainische Dörfer, Städte, ganze Landstriche. Angriffe auf die Infrastruktur, Heizung, Strom, Krankenhäuser, Schulen. Verängstigte und verzweifelte Menschen – vom Kleinkind bis zum Greis. Diese Bilder sagen mehr als viele Worte. Ebenso die Bilder aus den Hungergebieten in Afrika, deren Situation sich durch die ausfallenden Getreidelieferungen aus der Ukraine massiv verschlechtert hat. Diese Bilder zeigen uns die weltweite Dimension. Leittragende dieses Krieges sind auch Millionen Menschen in den vergessenen Krisen- und Kriegsgebieten unserer Welt. Wann ist endlich Frieden?
Viele engagieren sich dort ohne großes Aufheben – dafür mit einer großen Selbstverständlichkeit. Beten mit Kopf, Herz und Hand.
Liebe Schwestern und Brüder,
für viele unter uns ist die Ukraine immer noch ziemlich weit weg. Aber doch nicht so weit weg, als dass wir uns nicht Gedanken machen würden. Krieg wird nicht mehr in so fernen Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan geführt, sondern mitten in Europa.
Der 24. Februar hat auch unser Land verändert. Pawlo Schwarz, der lutherische Bischof von Charkiv bat kurz nach Kriegsbeginn: „Betet für uns und helft uns zu verteidigen!“
In vielen Kirchen finden seitdem Friedensgebete statt. Und viele Kirchengemeinden haben über ihre Netzwerke Flüchtlinge aufgenommen, Hilfslieferungen und Spenden organisiert. Viele engagieren sich dort ohne großes Aufheben – dafür mit einer großen Selbstverständlichkeit. Beten mit Kopf, Herz und Hand.
Jesus lässt uns die Verantwortung für den Frieden in der Welt. Der Friede der Welt ist kein vollkommener. Er ist immer bedroht. Und er ist immer umstritten. Wann ist endlich Frieden?
Liebe Schwestern und Brüder,
wir haben einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium gehört. Er stammt aus den Reden, in denen Jesus seine Jünger auf seinen Tod vorbereitet und tröstet. Jesus sagt: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“
Jesus, lässt und er gibt.
Jesus lässt uns Frieden.
Lange habe ich darüber nachgedacht, was damit gemeint ist. Dann wurde mir klar: Jesus lässt uns die Verantwortung für den Frieden in der Welt. Der Friede der Welt ist kein vollkommener. Er ist immer bedroht. Und er ist immer umstritten. Wann ist endlich Frieden?
Wer unter Dauerbeschuss leidet, für den ist allein das Schweigen der Waffen ein Segen. Aber ist das ist noch kein Frieden.
Wenn ein Land, das überfallen wird, auf seine Verteidigung verzichtet, ist das kein Frieden. Ganz im Gegenteil. Denn einen Frieden ohne Gerechtigkeit kann ich mir nicht vorstellen. Aber auch Waffen schaffen noch keinen Frieden.
Der Frieden der Welt, den Jesus uns lässt, kennt diese unauflöslichen Spannungen. Sie stürzt alle, die Verantwortung für den Frieden übernehmen, in ein Dilemma. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass es auch in der Kirche unterschiedliche Positionen zum Thema Waffenlieferungen gibt. Und ein erster Schritt zum Frieden ist es, die Position des Andersdenkenden auszuhalten. Es ist eben kein schwarz-weiß. Der Frieden der Welt, den Jesus uns lässt, ja, uns anvertraut, ist ein mühsames Geschäft. Er ist nie frei von Missverständnissen. Nie frei von gefühltem Macht- oder gar Gesichtsverlust. Der Frieden der Welt ist aber unsere Aufgabe. Darum beten wir heute. Deshalb sind wir hier.
Für ihn haben wir zu sorgen. Für ihn sollen wir Verantwortung übernehmen.
Deshalb heißt es in Psalm 34 „Lass ab vom Bösen und tue Gutes. Such Frieden und jage ihm nach!“ Den Frieden der Welt sollen wir suchen. Ihm sollen wir nachjagen. Das ist die Aufgabe, die Jesus den Seinen lässt. Die er uns überlässt.
Aber Jesus lässt uns nicht nur etwas. Er gibt uns auch etwas.
Er gibt uns seinen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft und unser Verstand.
Er gibt uns seinen Frieden, der über alle Zeiten und Generationen hinweg, von Anfang bis zum Ende der Welt derselbe ist. Friede, der von Gott und bei Gott ist. Friede, der wahrhaft vollkommen ist.
In diesem Frieden sind wir geborgen. So geborgen, dass wir keine Angst mehr haben müssen. Keine Angst. Das heißt auch: kein Handeln aus Angst heraus.
„Euer Herz erschrecke nicht“.
Die Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen ist, trägt und bewahrt uns. In diesem Frieden treten wir wachsam und nüchtern für den Frieden ein. Für den Frieden unter den Menschen: Oft unvollständig. Angegriffen. Angefeindet.
Jesus gibt uns seinen Frieden, damit wir nicht mehr Angst haben müssen.
Nicht mehr erschrecken müssen. Weil wir wissen: Wir sind aufgehoben. Wir haben eine Heimat. Die Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen ist, trägt und bewahrt uns. In diesem Frieden treten wir wachsam und nüchtern für den Frieden ein. Für den Frieden unter den Menschen: Oft unvollständig. Angegriffen. Angefeindet.
Aber dennoch klar im Willen nach Frieden, für den wir Verantwortung tragen und für den wir beten. Heute ganz besonders. Für den Frieden in der Ukraine: Gott, schütze die Menschen: Die Kleinen und die Großen, die Alten und die Kinder. Die Verletzlichen.
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