Prälatin Gabriele Wulz über den Kampf gegen den Antisemitismus
Am Morgen des 5. Juni entsetzte ein Brandanschlag auf die Neue Synagoge in Ulm die Menschen. Aus Anlass einer Solidaritäts-Kundgebung am 11. Juni spricht die Ulmer Prälatin Gabriele Wulz im Interview darüber, wie sie Antisemitismus in ihrer Arbeit erlebt und was Kirche und Gemeinden dagegen tun können.
Die Synagoge in Ulm, auf die am 5. Juni 2021 ein Brandanschlag verübt wurde (Archivbild).Ralph.schneider / CC BY-SA 3.0
Die Kirchengemeinden in Ulm haben schnell auf den Brandanschlag auf die Ulmer Synagoge reagiert – wie ist das Verhältnis von Kirche und jüdischer Gemeinde in Ulm?
Prälatin Gabriele Wulz: Das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und der Evangelischen Kirche in Ulm ist ausgezeichnet. Wir kennen einander, sind gut miteinander vernetzt und verbunden – sowohl auf der Strukturebene (Rat der Religionen) als auch persönlich – und wir stehen zueinander.
Prälatin Gabriele Wulz sieht den Antisemitismus als weit verbreitetes Problem.EHM/Stoppel
Wie haben Sie die Situation in Ulm nach dem Anschlag erlebt?
Gabriele Wulz: Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren entsetzt und schockiert. Wir waren sehr erleichtert, dass niemand zu Schaden gekommen ist. Aber der Angriff hinterlässt Spuren in der Seele. Nicht nur bei den Gemeindegliedern der jüdischen Gemeinde, sondern auch bei uns.
Antisemitismus stellt sich nicht immer so offen dar wie in diesem Fall – wo begegnet er Ihnen?
Gabriele Wulz: Antisemitismus ist ein Alltagsphänomen und so fest in unserer Kultur und Gesellschaft verankert, dass es vielen gar nicht auffällt, dass sie latent antisemitische Vorurteile und Klischees bedienen. Das beginnt in der Predigt am Sonntag, wenn von Israel in der Vergangenheit die Rede ist, zum Beispiel: In Israel feierte man das Passafest. Antijüdische Klischees sind aber auch dann gegenwärtig, wenn man ein düsteres Bild von der Umwelt Jesu zeichnet – selbstgerechte Pharisäer etwa, um dann Jesus mit seiner Botschaft umso heller strahlen zu lassen. Dabei wird übersehen, dass die Schriften des Neuen Testaments zunächst einmal als „frühjüdische“ Schriften zu sehen und zu lesen sind und Jesus selbst von sich sagt, dass er zu Israel gesandt ist.
In der letzten Zeit sind wir für Verschwörungserzählungen sensibilisiert worden, die zuweilen handfesten antisemitischen Stereotypen folgen. Und nicht zuletzt äußert sich in einer vermeintlichen Israelkritik ein Antisemitismus, der sich aus älteren Quellen speist als er sich selbst bereit ist einzugestehen.
Wie stehen Sie selbst zur Unterscheidung zwischen politischer Israelkritik und Antisemitismus?
Gabriele Wulz: Ich halte die 3-D-Regel für ein ganz gutes Prüfkriterium. Also: Wird mit dieser Aussage der Staat Israel delegitimiert? Wird mit dieser Aussage ein doppelter Standard angelegt? Wird der Staat Israel dämonisiert?
Ansonsten können Menschen die Politik der Regierungsverantwortlichen kritisch sehen und auch beurteilen. Das tun übrigens auch Israelis – jüdische wie arabische. Möglich ist das, weil Israel ein demokratisch verfasster Staat ist. Allerdings ist es auch kein Fehler, sich einzugestehen, dass wir von Seiten der Evangelischen Landeskirche Württemberg den Nahost-Konflikt nicht lösen werden.
In politischen Äußerungen, in den Medien, wird Antisemitismus zuallermeist geächtet – woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass er dennoch so verbreitet ist?
Gabriele Wulz: Ich kann es mir nur so erklären, dass es ein Tabu gab, das jetzt immer ungenierter gebrochen wird. Wobei man sich nicht täuschen darf: Die Ächtung des Antisemitismus ist sehr an der Oberfläche geblieben. Eine ehrliche Auseinandersetzung und eine schmerzhafte Selbstkritik habe ich auch im Raum der Kirche nur vereinzelt festgestellt. Die große Frage ist: Lassen wir uns durch unsere Geschichte wirklich in Frage stellen? Da haben wir alle noch einen weiten Weg vor uns und sind noch lange nicht am Ziel. Im Gegenteil: Manche Zusammenhänge gehen mir erst jetzt auf, und ich erschrecke, wie aktuell mir vieles von dem erscheint, was vor 100 Jahren das Denken und Handeln bestimmt hat.
Was können die Gemeinden vor Ort und auch die Kirche als Ganze tun, um Antisemitismus entgegenzutreten?
Gabriele Wulz: Zuallererst mal darauf hören und wahrnehmen, was jüdische Menschen in unserem Land erleben und welche Erfahrungen sie machen.
Und dann nachfragen und widersprechen, wenn im Umfeld Antisemitisches geäußert wird. Das schließt die eigene Person mit ihren blinden Flecken immer mit ein.
Kundgebungen sind ein wichtiges Zeichen. Sie zeigen: Wir lassen die jüdischen Gemeinden nicht im Stich. Es gibt den Konsens einer Gruppe, die sich öffentlich äußert.
Aber Kundgebungen allein und spontane Betroffenheit sind nur ein erster Schritt. Der Rat der Religionen ist das Forum der Verständigung, wie wir als Religionsgemeinschaften und Kirchen miteinander im Gemeinwesen unterwegs sind. Das bedeutet ehrliche Auseinandersetzung und gegenseitige Befragung. Das Verhältnis zur jüdischen Gemeinde ist die Gretchenfrage für uns alle, auch für die Zivilgesellschaft.
Was raten Sie Pfarrerinnen und Pfarrern sowie Gemeindegliedern, die in kirchlichen Kontexten auf antisemitisches Gedankengut oder Äußerungen stoßen? Wie geht man am besten damit um?
Gabriele Wulz: Am Beispiel der Evangelischen Kirchengemeinde Erbach, die sich nach dem Fackelwurf gegen eine Roma-Familie intensiv mit der eigenen Ortsgeschichte und dem jüdischen Zwangsaltenheim beschäftigt hat: Ruhig und klar bei der Sache bleiben, Räume öffnen für das Gespräch, sich durch heftige Emotionen und Widerreden nicht vom eigenen Weg abbringen lassen und ganz viel miteinander reden. Ich glaube, wir müssen in den Leitungsgremien unserer Kirchengemeinden in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren ganz viel miteinander reden und um Haltungen ringen.
Zum Hintergrund
Am Freitag, 11. Juni, findet um 19 Uhr eine öffentliche Kundgebung an der Neuen Synagoge in Ulm statt, veranstaltet von der Israelitischen Gemeinde Ulm. Neben Thomas Strobl, Innenminister von Baden-Württemberg, werden auch die Oberbürgermeister von Ulm und Neu-Ulm, Gunter Czisch und Katrin Albsteiger, ein Vertreter aus dem Vorstand Israelitischen Gemeinschaft Württemberg sowie Rabbiner Shneur Trebnik sprechen.
Der Brandanschlag am 5. Juni hat die Fassade und ein Fenster beschädigt. Durch einen Zeugen und das zügige Eingreifen der Feuerwehr konnten schlimmere Schäden verhindert werden. Landesbischof Dr. h.c. Frank Otfried July verurteilte den Anschlag scharf und sagte am Tag des Anschlags: „Der verabscheuenswürdige Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm hat uns tief erschüttert. Das hässliche Gift des Antisemitismus wirkt weiter".
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