Erfahrungen aus den Beratungsstellen des Diakonischen Werkes
Stuttgart. Die Corona-Pandemie verändert unseren Alltag, verunsichert und weckt Ängste. Menschen mit Suchterkrankungen trifft dies besonders hart. Erfahrungen aus den Suchtberatungsstellen der Diakonie.
Bald nach Beginn des Lockdowns gab es erste Meldungen über gestiegene Verkaufszahlen von Alkohol. Aber: Die Pandemie habe sich bei allen Suchtformen ausgewirkt, also bei den Suchtmitteln Alkohol und Drogen, aber auch bei der Sucht nach Glücksspiel, berichtet Elke Wallenwein, Referentin für Suchthilfen im Diakonischen Werk der evangelischen Kirche in Württemberg.
Auswirkungen der Pandemie
„Die Isolation hat allen zu schaffen gemacht, denn ohne schützende Sozialkontakte besteht die Gefahr, dass man schnell abrutscht“, sagt sie. Bei Alkoholsüchtigen habe sich das etwa so gezeigt, dass sie schon tagsüber Alkohol tranken anstatt nur abends. Diese neuen Gewohnheiten ließen bei manchen Menschen nach, als es nach dem Lockdown wieder Angebote der Selbsthilfegruppen gab, bei anderen verfestigten sie sich.
Die Beschaffung illegaler Drogen sei im Lockdown schwerer geworden, manche Konsumenten seien auf andere Drogen umgestiegen, und auch der Bedarf an Substitutionsbehandlungen sei gewachsen, berichtet Elke Wallenwein.
Bei Glücksspielsüchtigen gab es ebenfalls Veränderungen: „Viele wanderten ins Internet und damit in die Anonymität ab“, so die Erfahrungen der Beratungsstellen der Diakonie.
Existenzielle Ängste
„Angst um die Gesundheit, Angst um den Arbeitsplatz, Zukunftsängste – was in der Pandemie alle Menschen beschäftigt, trifft Risikogruppen besonders“, erklärt die Fachreferentin der Diakonie. Für Menschen, die dazu neigen, derartige Gefühle mit Suchtmitteln zu bewältigen, werden diese existenziellen Ängste problematisch, sagt sie.
Große Hürde: Scham
Falls jemand erkenne, dass er oder sie Hilfe brauche, gelte es, eine große Hürde zu überwinden: Scham. „Kaum ein Thema ist in unserer Gesellschaft mit mehr Scham besetzt als Sucht“, sagt Elke Wallenwein. „Sucht sehen viele Menschen als eine Charakterschwäche an.“ Dabei ziehen sich Suchterkrankungen verschiedener Art quer durch die Bevölkerung, betont sie. „Von außen sieht man nichts, und dann ist jemand plötzlich vier Wochen in einer Kur.“
Partner, Familie, Kollegen sind mit betroffen
Dabei betreffe Sucht, nicht nur in der Pandemie, das gesamte Umfeld: Partner, Kinder, Kollegen von Süchtigen. In Familien mit Suchtproblematik habe die Isolation, in der man eng zusammenlebte, besonders stark gewirkt. Wie in vielen anderen Bereichen zeigte sich auch hier ein Brennglas-Effekt: „Es kam zu mehr Konflikten oder sie eskalierten schneller, durch Rückfallgeschehen oder gestiegenen Konsum“, fasst Wallenwein zusammen.
Viele Suchtberatungsstellen bieten Programme zur Betreuung von Kindern aus Suchtfamilien an – dieses Angebot fehlte während des Lockdowns, ebenso wie der Blick von Verantwortlichen auf betroffene Kinder in ihren Kindergärten oder Schulen.
Hilfe in der Corona-Zeit
Direkt nach dem Lockdown im März hatten auch die verschiedenen Anlaufstellen zur Hilfe für Menschen mit Suchterkrankungen für ein bis zwei Tage geschlossen. Beratungsstellen und Kontaktläden entwickelten Konzepte, um zum Beispiel eine Betreuung per Telefon, Video oder in Form von Spaziergängen zu ermöglichen. So gab es für Drogensüchtige bald auch wieder die Möglichkeit zum Spritzentausch.
Elke Wallenwein betont die Bedeutung von Selbsthilfegruppen für Suchtkranke: „Sie sind für viele die erste Anlaufstelle.“ Umso schwerer habe der Lockdown diese Gruppen getroffen, die sich zunächst gar nicht mehr treffen konnten. Um die Menschen zu stabilisieren, etablierte man Anrufketten und Krisenspaziergänge, aber dennoch hätten auch sie von Rückfällen in dieser besonderen Situation berichtet.
Schwere Auswirkungen hatte der Lockdown auch für Menschen, die einen körperlichen Entzug machten oder planten: Krankenhäuser und Zentren für Psychiatrie schlossen teilweise sofort. Es wurde schwer, Plätze zu finden, weil diese für Corona-Patienten frei bleiben sollten. Für Klienten in den Rehabilitationseinrichtungen gab es keine Heimfahrten, keinen Ausgang, kein Praktikum mehr: „Manche erlebten das als einen persönlichen Schutzraum, andere haben deshalb abgebrochen“, so die Diakonie-Referentin.
Neue Möglichkeiten
Durch die neuen Angebote hätten auch die Beratungsstellen gelernt, berichtet Elke Wallenwein. Die Beratung von Angesicht zu Angesicht sei ideal, aber der Kontakt per Telefon oder Video böte auch neue Möglichkeiten: „Man muss sich erst einmal nicht zeigen.“
Im Moment finden alle Angebote der Beratungsstellen unter Einhaltung der geltenden Hygienebedingungen wieder statt, allerdings in reduzierter Form. Gruppen werden je nach Raumgröße aufgeteilt, manche Veranstaltungen finden so lange wie möglich im Freien statt.
Die Beratungsstellen planten derzeit auch, ihre Arbeit zur Prävention wieder aufzunehmen, zum Beispiel wieder Informationsveranstaltungen in Schulen abzuhalten, um den wichtigen Kontakt zu Jugendlichen zu halten, betont Elke Wallenwein.
Blick auf den Corona-Herbst und -Winter
Die Beratungsstellen haben sich seit dem Sommer auf ein bis anderthalb Jahre unter diesen Bedingungen eingerichtet, so die Fachreferentin der Diakonie.
Aber: Im Moment steigen die Infektionszahlen rasant an. Man spüre, wie die Menschen verunsichert seien. Sie scheuten sich, Angebote anzunehmen, berichtet Elke Wallenwein. Betrachtet man dies vor den Erfahrungen, wie sich der Lockdown auf Familien auswirkte, wächst die Sorge davor, dass sich diese Situation im Winter wiederholt. „Wir können nur auf Sicht fahren“, sagt Elke Wallenwein. Eine Eskalation müsse man unbedingt verhindern: „Wir wollen niemanden verlieren.“
Judith Hammer
In Württemberg gibt es an 26 Standorten diakonische Suchtberatungsstellen, mit zusätzlichen Außensprechstunden in kleineren Gemeinden.
Kontaktläden gibt es in größeren Städten, sie bieten praktische Hilfen und Kontakt für Menschen an, die noch nicht in der Beratung sind.
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