| Politik

Kretschmann: „Am Abtreibungskompromiss nicht rütteln“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview epd/Gerhard Bäuerle

Stuttgart. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) will keinen neuen Streit um den Abtreibungsparagrafen 218. „Ich kann alle nur warnen, an diesem Kompromiss zu rütteln“, sagt er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) und stellt sich damit gegen eine Forderung im geplanten Grundsatzprogramm der Grünen. Außerdem ruft der katholische Politiker die Kirchen zu Reformen auf und verrät, wo er seinen Sommerurlaub verbringt.

epd: Herr Ministerpräsident, fühlen Sie sich weiterhin im Corona-Krisenmodus, oder ist die Krise bereits Normalität?

Kretschmann: Es tritt ein Gewöhnungseffekt ein, auch wenn wir tatsächlich weiterhin im Krisenmodus sind. Das Verrückte ist: Das Öffnen in den vergangenen Wochen hat mehr Stress gemacht als das Schließen am Anfang. Wir haben schrittweise geöffnet, und es gab immer ein benachbartes Bundesland, das es anders macht, oder eine Branche, die sich benachteiligt fühlte, klagte. Deshalb erleben wir bei manchen eine unentwegte Unzufriedenheit.

„Umgang mit Nichtwissen“

epd: Wie geht man mit dem vielen Nichtwissen um, das so ein neues Virus mit sich bringt?

Kretschmann: Das ist wirklich sehr ungewohnt. Wir haben einen Beamtenapparat, der uns informiert, und ich lasse mich jede Woche von Experten beraten. Doch manchmal fühle ich mich nach einer Sitzung ratlos, weil auch diese Experten kontroverse Ansichten vertraten. In dieser Situation ist es oft so, dass man nicht Fakten bewerten kann, sondern mit Nichtwissen umgehen muss.  

epd: Corona hat derzeit oberste Priorität. Welche wichtigen Projekte Ihrer Regierung mussten liegenbleiben?

Kretschmann: Liegengeblieben ist zum Beispiel die Energiepolitik, leider auch der Konflikt zwischen Naturschutz und Landwirtschaft. Neben dem Klimawandel ist auch der weltweite Artenrückgang ein ganz gravierendes Thema. Die Krise hat andererseits angesichts der Zustände in der Fleischindustrie die Fragen neu aufgerollt, wie das Verhältnis von Verbrauchern zur Tierhaltung und zu den Erzeugern ist. Unter dem Segel „Fleisch muss immer billig, billig, billig sein“ haben sich Strukturen eingeschlichen, die untragbar sind. Das ist ein Kollateralnutzen: Der Umgang mit den Mitgeschöpfen, wie Tiere ja auch in unserer Landesverfassung genannt werden, ist zu einem viel größeren Thema geworden.

Ministerpräsident Kretschmann will an gesetzlicher Regelung zur Abtreibung festhaltenepd/Gerhard Bäuerle

Schwangerschaftsabbruch: „Am Kompromiss nicht rütteln“

epd: Im ersten Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Grünen steht: „Schwangerschaftsabbrüche haben im Strafgesetzbuch nichts verloren.“ Was sagen Sie als Katholik dazu?

Kretschmann: Was wir heute in den Gesetzen haben, ist ein kluger Kompromiss. Ein Schwangerschaftsabbruch ist für jede Frau, die ungewollt schwanger wird, eine unglaublich schwierige Entscheidung, die die meisten ihr ganzes weiteres Leben mit sich rumtragen. Das tut keine Frau leichtfertig. Deshalb ist es richtig, dass Schwangerschaftsabbrüche unter klar geregelten Bedingungen möglich sind und gleichzeitig die Pflicht besteht, sich vorher beraten zu lassen. Ich kann alle nur warnen, an diesem Kompromiss zu rütteln. Er ist für alle Seiten schwierig, für die Befürworter einer liberalen Regelung ebenso wie für die, die Abtreibung ablehnen. Die Vorstellung, man könnte dieses Thema außerhalb dieses fundamentalen Kompromisses neu regeln, halte ich für abwegig. Das bedeutet neuen tiefgehenden Streit in der Gesellschaft, der unweigerlich polarisiert.

epd: In der „taz“ sagte Ihre Parteikollegin, Baden-Württembergs Sozialstaatssekretärin Bärbl Mielich, vor wenigen Tagen, dass es „Engpässe in der Versorgung mit Schwangerschaftsabbrüchen“ gebe. Deshalb prüfe die Landesregierung, ob Neueinstellungen von Ärzten in Unikliniken davon abhängig gemacht werden können, dass sie bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.

Kretschmann: Wenn eine Frau sich nach innerem Ringen und dem vorgeschriebenen Beratungsgespräch für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, dann soll sie nicht durch das halbe Land reisen müssen, um die Abtreibung vornehmen zu lassen. Das halte ich für richtig.  Aber eine gewisse Strecke muss unter Umständen in Kauf genommen werden, wie beim Aufsuchen von anderen Spezialisten auch. Derzeit gibt es zwischen dem Sozialministerium und dem Wissenschaftsministerium Gespräche darüber, wie die Unikliniken im Land auch in Zukunft Schwangerschaftsabbrüche ermöglichen können. Für mich ist aber klar: Man kann Ärztinnen und Ärzte selbstverständlich nicht dazu verpflichten, Abtreibungen vorzunehmen, wenn sie dies aus persönlichen, ethischen Gründen ablehnen - und das sollte auch kein Einstellungskriterium sein.

„Gesellschaft ist auf Kirchen angewiesen“

epd: Kommen wir zu den Kirchen: Wie wirken sich deren jüngst gemeldeten Mitgliederverluste auf das Land aus?

Kretschmann: Wir spüren das erst mal nicht, denn die Kirchen sind ein wichtiger Partner unabhängig von der Mitgliederzahl. Die Zivilgesellschaft ist allerdings auf Akteure wie die Kirchen angewiesen. Die Demokratie wird erst lebendig durch eine engagierte Bürgerschaft. Die Kirchen leisten wichtige Dienste für die Gesellschaft, etwa durch Caritas und Diakonie, die zu den größten Arbeitgebern im Südwesten zählen.

epd: Wenn aber möglicherweise in 40 Jahren statt zwei Drittel nur noch ein Drittel der Baden-Württemberger Mitglied einer Kirche sind - welche Folgen hätte das fürs Ländle?

Kretschmann: Das würde die soziale Temperatur senken. Das ganze gesellschaftliche Klima wäre ein anderes. Menschliche Zuwendung lässt sich ja nicht gesetzlich regeln. Nehmen Sie beispielsweise die Hospizbewegung, die ist im kirchlichen Raum entstanden: So was kann der Staat nicht einfach hervorbringen. Ich frage mich, wenn die Leute austreten: Was tritt dann an diese Stelle? Wer Schwierigkeiten mit der katholischen Kirche hat wegen des Zölibats oder der Position von Frauen, der könnte ja in die evangelische Kirche wechseln. Das macht aber fast niemand.

„Kern des Glaubens freilegen“

epd: Wünschen Sie sich Reformen?

Kretschmann: Der Spruch „ecclesia semper reformanda“ - die Kirche ist ständig zu reformieren - bedeutet nicht, dass man nur an seinen Strukturen arbeitet. Die Reformen in der Kirche waren immer davon getrieben, wieder zum Kern, dem Evangelium, zurückzukehren. Der Ansatz ist: Die Kirche muss sich reinigen. Es geht also nicht um Reformen um der Reformen willen, sondern darum, wieder den Kern des christlichen Glaubens freizulegen.

epd: Haben sich die großen Kirchen denn vom Kern entfernt?

Kretschmann: Das glaube ich nicht. Sie haben lediglich das Problem, mit einer sich verändernden Welt zurechtzukommen. Das Problem der evangelischen Kirche ist, dass sie denkt: „Wir sind schon reformiert.“ Dass das 500 Jahre her ist, wird dabei leicht vergessen. Für alle Kirchen gilt: Das Beben der Aufklärung und der Evolutionstheorie haben sie in seiner Radikalität nicht wirklich durchdekliniert. Was heißt es in einer von Wissenschaft dominierten Welt für den modernen Menschen, an Gott zu glauben?

Es fällt etwa auf, dass praktisch niemand mehr sagt: Corona ist eine Strafe Gottes. Das wäre früher völlig üblich gewesen, denn wenn man den Erreger nicht kennt, macht man eine überirdische Macht dafür verantwortlich. Theologisch schwimmen viele bei dieser Frage. Von einem Gottesbild, das immer noch glaubt, Gott lenke die Welt, indem er alles steuert, muss man sich vielleicht mal radikal verabschieden. Wie ein Tsunami zustande kommt, ist einfach erklärbar. Die Corona-Krise auch.

epd: Da Sie die evangelische Kirche schon angesprochen haben - wie sieht es aus Ihrer Sicht bei der katholischen aus?

Kretschmann: Bei ihr kommt noch ein weiteres Problem dazu: In einer modernen Gesellschaft kann es keine Diskussionsverbote geben. Wenn etwa ein Papst sagt, über den Zölibat müsse nicht mehr gesprochen werden, das sei abschließend geklärt, dann ist das eine unsinnige Aussage. Der christliche Glaube muss jederzeit säkularen Menschen darstellbar sein.

epd: Befürchten Sie eine Entchristlichung der Gesellschaft?

Kretschmann: Wir waren noch nie so christlich wie heute. Unsere Verfassungsordnung ist durch und durch christlich imprägniert. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa immer wieder entschieden, dass bei der Sozialhilfe ein Minimum nicht unterschritten werden darf. Feindesliebe meint nicht, positive Gefühle für einen Feind zu haben, sondern ihn ordentlich zu behandeln. Genau das ist Grundbestandteil unserer Verfassungsordnung.

Das geht weiter mit Themen wie Menschenwürde oder Sonntagsschutz. Und das wird auch gelebt. In der Flüchtlingskrise haben sich Hunderttausende Menschen in Baden-Württemberg engagiert. Schauen Sie auf die mehrheitliche Einstellung zu Flüchtlingen, Minderheiten, Rassismus: Wann war eine Gesellschaft jemals so christlich wie unsere heute? Nie.

Sommerurlaub? Heimaturlaub!

epd: Angesichts der eingeschränkten Reisemöglichkeiten: Was haben Sie für Ihren Sommerurlaub geplant?

Kretschmann: Die üblichen Pläne - eine Reise nach Schottland zu unserer Tochter und nach Griechenland - können wir nicht verwirklichen. Deshalb gibt es in diesem Jahr Heimaturlaub, unter anderem im Bayerischen Wald. Dort erwandern wir uns den Nationalpark. Ich war vor 20 Jahren zum ersten Mal dort, als der Borkenkäfer ganze Waldstriche zum Absterben gebracht hatte. Nun möchte ich mir ansehen, was aus diesen Waldstrichen geworden ist. Die abgestorbenen Fichten bleiben im Nationalpark ja stehen. Das interessiert mich einerseits als Biologe und andererseits mit Blick auf unseren eigenen Nationalpark Schwarzwald.


Quelle: epd

Mehr News

  • Datum: 19.04.2024

    „Konfirmanden ist Glaube wichtiger als Geschenke“

    Frontalunterricht gibt es kaum noch im Konfi-Unterricht, sagt Prof. Dr. Wolfgang Ilg von der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg im Interview. Die Konfi-Arbeit sei nach wie vor das Angebot mit der größten Reichweite in der Evangelischen Kirche.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    „Kirche mit Kindern“ ist einfach lebendig

    Vom Kindergottesdienst zu einer Kirche für die ganze Familie: Lebendiger und spannender Gottesdienst mit neuen Herausforderungen. Wir haben Sabine Foth gefragt, wie sich die Kirche mit Kindern zu einer Familienkirche gewandelt hat und was ihr an der Arbeit besonders gefällt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    Video: Multitalent mit Down-Syndrom

    Tamara Röske hat viele Talente: Schauspielern, Modeln und Leichtathletik – trotz Handicap. Die 28-Jährige hat das Down-Syndrom. Wie bringt sie alles unter einen Hut? Darüber spricht sie zusammen mit ihrer Mutter Antje mit „Alpha & Omega“-Moderatorin Heidrun Lieb.

    Mehr erfahren
  • Datum: 17.04.2024

    „Der Segen Gottes gilt uns allen“

    Mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche Mariaberg bei Gammertingen hat am 13. April die ökumenische Woche für das Leben begonnen. Sie stellt unter dem Motto die Lebenswirklichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener mit Behinderungen in den Mittelpunkt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Innovationstag: Jetzt anmelden!

    Frische Ideen fürs Gemeindeleben: Unter dem Motto „#gemeindebegeistert – Kirche lebt, wo dein Herz schlägt“ veranstaltet die Landeskirche am 4. Mai einen großen Innovationstag. In Projektpräsentationen und Workshops gibt’s Austausch und Tipps. Jetzt anmelden

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Segen, Mut & Traubenzucker

    In diesen Wochen stehen an vielen Schulen Abschlussprüfungen an - für Schülerinnen und Schüler eine stressige Zeit. Die Ev. Jugendkirche Stuttgart macht mit einem speziellen PrüfungsSegen Mut und stellt auch anderen Gemeinden Materialien zur Verfügung.

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Digitaler Notfallkoffer für die Seele

    Hilfe in persönlichen Krisenmomenten bietet die KrisenKompass-App der Telefonseelsorge fürs Handy und Tablet. Sie bietet Unterstützung, um schnell wieder auf positive Gedanken zu kommen oder bei Bedarf rasch professionelle Hilfe finden zu können.

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Zum 200. Todestag von Beata Regina Hahn

    Vor 200 Jahren starb Beata Regina Hahn, die zweite Ehefrau des Mechanikerpfarrers Philipp Matthäus Hahn, Tochter von Johann Friedrich Flattich und Mutter der Schulgründerin Beate Paulus. Als Herausgeberin von Hahns Schriften prägte sie dessen Bild für viele Jahre.

    Mehr erfahren
  • Datum: 15.04.2024

    „Wir beten, dass die zerstörende Gewalt ein Ende nimmt“

    Die Landeskirchen in Württemberg und Baden haben den Jüdinnen und Juden im Land Grüße zum Pessach-Fest übersandt. Darin nehmen Landesbischof Gohl und Landesbischöfin Springhart Bezug auf den Angriff der Hamas wie auch auf den Raketenangriff des Iran auf Israel.

    Mehr erfahren
  • Datum: 15.04.2024

    Hoffnung wird durch Menschen vermittelt

    Bei einer religionspolitischen Tagung der SPD-Bundestagsfraktion am 12. April in Berlin unter dem Titel „Mehr Zuversicht! Mit Hoffnung die Zeiten wenden“ betonte Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl, wer die Verwurzelung in Jesus Christus spüre, werde für andere zur Hoffnung.

    Mehr erfahren
  • Datum: 13.04.2024

    Landesbischof Gohl: "Wir stehen an der Seite Israels"

    "Der Angriff des Iran bedroht die Existenz Israels. Wir müssen daran erinnern, dass alles mit dem Pogrom der Hamas an Israel begann." Gohl weist weiterhin auf die israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas hin.

    Mehr erfahren
  • Datum: 12.04.2024

    Klassik und Pop Hand in Hand

    Die Evangelische Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen hat schon früh einen Studiengang für populare Kirchenmusik eingerichtet und war damit in der EKD Vorreiter. Prof. Thomas J. Mandl und Prof. Patrick Bebelaar erklären, was das Besondere an der HKM ist.

    Mehr erfahren
Mehr laden