Wir schreiben das Jahr 1524. Es ist Sonntag, der 14. August. Aus allen Himmelsrichtungen strömen Menschen durch die Tore der Reichsstadt Reutlingen. Schon früh haben sie sich auf den Weg gemacht, gar aus Herrenberg oder aus Esslingen, um heute in der Marienkirche dabei zu sein.
Denn wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht seit vergangenen Sonntag ausgebreitet: Der Prädikant Matthäus Alber hat angekündigt, er werde im nächsten Sonntagsgottesdienst die Messe auf Deutsch halten und, ganz unglaublich, er werde beim Abendmahl den Kelch auch den Laien anbieten. Das wollen die Leute sich nicht entgehen lassen – sei es aus Sehnsucht danach, endlich das Priestertum aller Getauften zu erleben und zu schmecken, sei es aus Sensationslust: Wird Alber es tatsächlich wagen, sich gegen Brauch und Recht der Kirche zu stellen und das Abendmahl so zu feiern wie die Ketzer in Böhmen und die geächteten Wittenberger?
Alber entstammt einer bedeutenden Reutlinger Handwerkerfamilie. Nach einem Brand, der Haus und Vermögen der Familie zerstörte, und dem frühen Tod seines Vaters, des Goldschmieds Jodokus, brach Matthäus auf, um als fahrender Schüler Bildung zu erwerben, wohl dem Wunsch seiner Mutter Anna gemäß, die für ihn eine geistliche Laufbahn im Blick hatte. Er besuchte die Lateinschulen in Schwäbisch Hall, Rothenburg und Straßburg. Nach einem Intermezzo als Lehrgehilfe an der Reutlinger Lateinschule wurde Alber 1513 an der Tübinger Universität immatrikuliert, wo er Philipp Melanchthon und dessen Humanismus kennenlernte. Von seinem zweiten Studienort, Freiburg, kehrte er 1521 mit einem fortgeschrittenen Studienabschluss in Theologie, vermutlich als baccalaureus formatus, nach Reutlingen zurück, um die neu geschaffene Ratsprädikatur anzutreten. Seine reformatorischen Predigten wurden nicht nur von der Bürgerschaft, sondern auch von nicht wenigen Kollegen in der Stadt mit Interesse und wachsender Zustimmung rezipiert. Nach drei Jahrzehnten reformatorischer Tätigkeit in Reutlingen berief Herzog Ulrich ihn 1549 an die Stuttgarter Stiftskirche. In seinen letzten Lebensjahren wirkte Alber als Abt der evangelischen Klosterschule Blaubeuren.
Inzwischen ist die Marienkirche voll und auch vor der Kirche drängen sich die Menschen. Es sind so viele gekommen, dass gar nicht alle in die Kirche passen. Sie erleben einen Abendmahlsgottesdienst, der anders aussieht, klingt und schmeckt als die bisherigen. Der Tübinger Vogt berichtet an die habsburgische Herrschaft in Stuttgart: Alber hat „eine teutsche mess one liechter ganntz lut alls ob er predigte vnnd doch dar Inn den Canon nit gelesen vnnd Zuletzt Nachdem er dz hochwirdig Sacrament genossenn, hat er sich Zum volckh gewennt vnnd dise wort gesprochenn: liebenn khind, So Ir ein begurt hetten vnssernn herrn vnnd sein blut Zuempfahenn, So haben Ruw vnnd leyd vber ewer sund vnnd ein gut vertrawen, euch seyen die sund nachg(v)lassenn, Nachdem auch vnnser herr die vff sich genomen vnnd dafur gelittenn hat etc. Also seyenn bey xx personen hinZu ganngen vnnd das hochwurdig Sacrament vnder beyderley gestallt empfanngen“ (Hans-Christoph Rublack, Nördlingen zwischen Kaiser und Reformation, 128f). Alber hat demnach die Messe, entsprechend Martin Luthers Vorgehen in seiner Formula Missae von 1523, ohne den Messkanon gefeiert, der das Abendmahlsgeschehen als Opfer deutet, und der Gemeinde tatsächlich den Kelch gereicht. Bemerkenswert ist dem Berichterstatter zudem nicht nur die deutsche Sprache der Liturgie, sondern auch die Verkündigungslautstärke, mit der Alber sie vortrug. Die „Laien“ erhielten also vollen Anteil an den Worten wie an den Gaben des Abendmahls.
Die Ketzerfrage und Luthers Placet
Als Alber sich ein halbes Jahr später vor dem Reichsregiment in Esslingen verantworten musste, wurde er unter anderem auch zu seiner Abendmahlspraxis befragt. Die insgesamt 52 Fragen stellte der kaiserliche Anwalt Dr. Kaspar Mart. Dessen Worte verdeutlichen die Brisanz:
Hier geht es um die Ketzerfrage! Alber beruft sich dagegen auf die Autorität Christi und der Schrift: „Frag 12: Ob er gepredigt und gelert hab, das gut, nutz und cristenlich sei, das d[a]z hochwirdig sacrament des leibs und pluts under peider gestalt den laien gereicht soll werden. Antwort: das ers gelert hab und inen mitgeteilt, nachdem das der son gottes selber ingesatzt hab und bevolhen, den kelch allen zu reichen. Frag 13: ob er gelert und gepredigt hab, das die Beheym und ander, so solches im geproch haben, weder ketzer noch der cristenlichen kirchen widerwertig seyen. Antwort: ja, dann sunst musten Christus und Paulus ketzer sein, die es dermasen gelert und geprocht haben. Frag 14: ob er etlich menschen under beider gestalt communiciert oder darzu geholfen und geratten hab. Antwort: ja, und habs nechst davor auch gesagt“ (Julius Volk, Das Verhör des Reutlinger Reformators Dr. Matthäus Alber vor dem Reichsregiment in Eßlingen am 10.-12. Januar 1525, 232). Einige Antworten zuvor findet sich Albers prägnante Formulierung des allgemeinen Priestertums, das in seiner Abendmahlspraxis Gestalt gewinnt: „Das wir alle priester sein, durch Christi plut geweicht und durch den heiligen geist gesalbet, beide, es sei man oder weib…“ (Volk, Verhör, 231).
Nachdem das Reichsregiment den Prädikanten wider Erwarten hatte ziehen lassen, ohne, wie von Mart gefordert, ein förmliches Gerichtsverfahren im Sinne des Wormser Edikts zu eröffnen, arbeitete Alber weiter an einer neuen Ordnung für den Reutlinger Gottesdienst. Dabei ging er nicht von der Messe aus, sondern vom Prädikantengottesdienst, wie er ihn seit 1521 in der Marienkirche gehalten hatte – eine Urform unseres Oberdeutschen Gottesdienstes. Diese neue Gottesdienstordnung sandte er 1526 zur Begutachtung nach Wittenberg. Luther, der für Sachsen an der Messform festhielt, schrieb daraufhin einen Brief an Alber, mit dem er dem Predigtgottesdienst sein Placet gibt: „Ceremoniae mutatae apud vos placent“ (WA.Br 4, 7f., Nr. 964). Allein die Länge der Lesungen kritisiert Luther. Er fürchte, damit werde die Gemeinde überfordert. Aber Albers Gottesdienstform hatte sich ja schon einige Zeit bewährt.