Staatliches Handeln bei Gefahr für Leib und Leben noch einmal überprüfen
Asylpfarrer Joachim Schlecht erhält täglich Bitten um Kirchenasyl – doch bevor eine Kirchengemeinde einem oder einer Geflüchteten Asyl gewährt, wird der Fall genau geprüft. Wie solch ein Fall abläuft und worauf es dabei ankommt, hat Joachim Schlecht im Interview erklärt.
Asylpfarrer Joachim Schlecht erhält täglich Bitten um Kirchenasyl. Bild: elk-wue.de
Mit welchen Anliegen wenden sich Hilfesuchende derzeit an Sie?
In der Regel sind es Menschen, die Angst davor haben, in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurück abgeschoben zu werden. Hintergrund ist das sogenannte Dublin-Verfahren*. Die Betroffenen befürchten bzw. haben die Erfahrung gemacht, dass die Zustände für Geflüchtete in dem Land der EU, in dem sie zuerst als Flüchtling ankamen, und einen Asylantrag gestellt haben, menschenunwürdig sind. Die deutschen Behörden schicken diese Geflüchteten in der Regel dennoch dorthin zurück, wenn sie bei der Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Staat zuständig ist. Aktuell gibt es etwa Berichte aus Litauen: Von dort berichten Geflüchtete, dass sie in Haft genommen und dort misshandelt wurden, anstatt dass ein Asylverfahren durchgeführt wurde. Andere Gründe für eine Bitte um Kirchenasyl können sein, dass ein Transport in das andere Land unmenschlich wäre oder die geflüchtete Person so erkrankt ist, dass die Reise deshalb nicht in Frage kommt. Generell gesagt, muss für das Kirchenasyl Gefahr für Leib und Leben bestehen; vor diesem Hintergrund soll während des Zeitgewinns durch das Kirchenasyl staatliches Handeln dann noch einmal überprüft werden.
Viele Menschen fragen direkt nach Kirchenasyl, dies macht bis zu drei Anfragen pro Tag derzeit aus.
Es gibt auch Anfragen, die Kirchengemeinden stellen, für Menschen, die sie kennen, oder von Angehörigen oder Nachbarn, oder von Sozialarbeitern in einer Unterkunft. Ich erhalte Anfragen aus ganz Deutschland, die ich an die dortigen Stellen weiterleite.
Dabei muss ich gleich zu Beginn klarstellen, dass das Asylpfarramt selbst keinen Asylplatz hat und dass es kein Recht auf Kirchenasyl gibt. Ich berate die Kirchengemeinden in Fällen des Kirchenasyls; das schließt auch die Risiken mit ein. Es gab zum Beispiel – nicht in Baden-Württemberg – Fälle, in denen Geistliche wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt angeklagt wurden. Es ist immer eine Herausforderung, überhaupt eine Gemeinde hierfür zu finden. Wobei nicht ich vor Ort Kirchenasyl anfrage, sondern die Geflüchteten und ihre Helfer dort anfragen müssen.
*Dublin-Verfahren: Eine EU-Verordnung (Dublin III, Nr. 640/2013) schreibt vor, dass das Land in der Europäischen Union (plus Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz), in dem die Fingerabdrücke einer Person erstmalig erfasst wurden, für das Asylverfahren zuständig ist.So soll jeder Antrag nur einmal geprüft werden.
„Es gibt kein Recht auf Kirchenasyl.“
Wie kann ein solcher Fall in der Praxis ablaufen?
Wenn die zuständige Behörde in Deutschland feststellt, dass der oder die Geflüchtete über einen anderen EU-Mitgliedsstaat eingereist ist, beginnt eine sechsmonatige Frist, binnen derer die Person dorthin zurückgebracht wird. Wenn das nicht innerhalb der Frist geschieht, ist Deutschland für das Verfahren zuständig. Davon unabhängig können die deutschen Behörden den Selbsteintritt und damit die eigene Zuständigkeit erklären, aus politischen oder humanitären Gründen. Falls die Person aber als untergetaucht gilt, verlängert sich die Frist auf 18 Monate.
Menschen, die sich wegen eines Kirchenasyls an mich wenden, sind häufig schon seit einigen Wochen hier; seltener melden sie sich erst kurz vor Ablauf der Frist.
Nur in seltenen Fällen frage ich für einen Betroffenen bei einer Kirchengemeinde in dem Kirchenbezirk an, in dem derjenige lebt, oder die Gemeinde hat schon Kenntnis von dem Fall, zum Beispiel aus einem Arbeitskreis Asyl.
Der Kirchengemeinderat muss zusammentreten und beschließen, dass das Kirchenasyl eingerichtet wird. Ich berate dabei und kläre über die Risiken auf. Die Sitzung wird kurzfristig als nicht-öffentliche Sitzung einberufen. Wenn der Kirchengemeinderat sich gegen das Kirchenasyl entscheidet, sind mögliche Gründe zum Beispiel, dass es keine geeigneten Räume gibt oder sich nicht genug Personen um den oder die Geflüchteten kümmern können. Oder man kommt zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um einen Härtefall handelt. In Baden-Württemberg nehmen wir nur besondere Härtefälle ins Kirchenasyl auf, andere Landeskirchen Bundesländer handhaben dies zum Teil großzügiger. Falls man zu der Entscheidung kommt, dass jemand ins Kirchenasyl aufgenommen wird, ist der weitere Ablauf folgendermaßen:
Es muss ein Raum zur Unterbringung gefunden und genutzt werden, in dem auch Gottesdienste gefeiert werden, das ist meistens neben der Kirche auch im Pfarrhaus oder im Gemeindehaus der Fall. Manchmal ist es schwer, einen solchen Raum zu finden.
Die Gemeinde ist ab diesem Moment verantwortlich, das muss klar sein: Finanziell, seelsorgerlich, medizinisch – das umfasst unter Umständen auch die Krankenversicherung. Im Moment tragen die Kommunen auch im Kirchenasyl die Kosten der medizinischen Notversorgung für den Geflüchteten, so wie es auch zuvor bei der Unterbringung in der Flüchtlingsunterkunft der Fall war. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht. Hinzu kommen die Kosten für Verpflegung und ggf. Rechtsanwaltskosten. Häufig versucht die Kirchengemeinde auch, ein psychologisches oder medizinisches Gutachten einzuholen, das die Argumentation für den Selbsteintritt der deutschen Behörden unterstützt.
Es entstehen praktische Fragen: Wo kann der oder die Geflüchtete Wäsche waschen, wer kann Deutsch-Unterricht erteilen? Gibt es W-Lan, damit Kontakt zu Familie und Freunden möglich ist? Womit kann sich die Person beschäftigen – denn sie darf das Kirchenasyl nicht verlassen. Es ist eine Herausforderung für eine Kirchengemeinde, die viele auch fürchten. Man braucht nach meiner Erfahrung ungefähr 15 Personen, die sich um den Geflüchteten in dieser Zeit kümmern. Falls es sich um eine Familie handelt, muss sich auch jemand finden, der die Kinder in die Schule bringt. Es gibt beeindruckende Beispiele davon, wie Mitglieder einer Gemeinde das in der Vergangenheit organisiert haben. Manchmal hilft auch die Familie des Geflüchteten mit, sofern sie in der Nähe lebt.
Wenn sich eine Gemeinde für das Kirchenasyl entschieden hat, habe ich schon oft erlebt, dass anfängliche Skepsis bei einzelnen Mitgliedern der Gemeinde sich in große Hilfsbereitschaft verwandelt und es sich für die Gemeinde positiv auswirkt. Es bedeutet den Menschen etwas, wenn sie helfen können.
Im Fall eines Kirchenasyls melden wir den Behörden, dass sich der- oder diejenige vorübergehend nicht mehr in der Flüchtlingsunterkunft befindet und wo genau jetzt im Kirchenasyl. Es kommt vor, dass die zuständigen Mitarbeitenden dort die Institution des Kirchenasyls nicht kennen, dann erkläre ich, wie das Verfahren funktioniert. Die Zusammenarbeit verläuft in der Regel gut. Die Kommune wird informiert. Innerhalb der Kirche informiere ich die Dekanin oder den Dekan, die Prälatur, das Rechtsdezernat des Oberkirchenrats und die Pressestelle.
„Kirchenasyl ist eine Herausforderung für eine Kirchengemeinde - aber ich habe schon erlebt, wie sich anfängliche Skepsis in große Hilfsbereitschaft verwandelt hat.“
Wichtig ist: Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass mit dem Kirchenasyl die sechsmonatige Frist, nach deren Ablauf Deutschland für das Asylverfahren zuständig ist, einfach ausgesessen werden soll. Die Mitglieder eines Kirchengemeinderates, die vor einer Entscheidung über das Kirchenasyl stehen, prüfen die Umstände jedes Falles genau. Dies geschieht nicht, um den Staat in Frage zu stellen, sondern um die Humanität im Staat zu stärken. Es geht darum, einem übergeordneten Ziel des Rechts zur Geltung zu verhelfen. Dahinter steckt auch für die Mitglieder des Kirchengemeinderates und der Gemeinde der Anspruch, selbst nach christlichen Maßstäben zu leben.
Seit 2015 gibt es eine Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Kirchen, die einen bestimmten Ablauf festlegt. An dieser Struktur wird für die „Dublinfälle“ festgehalten:
Die Kirche meldet das Kirchenasyl sofort an die zuständige staatliche Stelle, verbunden mit der Bitte, alle geplanten Abschiebemaßnahmen zu stoppen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gewährt eine vierwöchige Frist für die Begründung des Härtefalls; während dieser Zeit wird ein Dossier verfasst. Daraus geht hervor, warum die Abschiebung in das Land, das ursprünglich für das Asylverfahren zuständig wäre, im Einzelfall eine unzumutbare Härte darstellen würde. Es geht nicht um die Gründe für das Asyl als solches, diese werden im zuständigen Staat geprüft.
Wir – die Mitglieder der Kirchengemeinde, der Rechtbeistand und ich - tragen die erforderlichen Unterlagen zusammen, besorgen Papiere, die die Lage belegen, und, falls nötig, ein Gutachten eines Psychiaters. Auch Integrationspunkte werden erwähnt, aber sie zählen höchstens als Pluspunkte. Danach muss das Dossier über mich oder meinen Stellvertreter Dietmar Oppermann (Diakonisches Werk Württemberg) an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingesendet werden.
Innerhalb von ein bis zwei Wochen erfolgt die Entscheidung – Selbsteintritt oder Ablehnung. Derzeit wird in 95 Prozent der Fälle abgelehnt, mit Hinweis auf das vorhandene Asylsystem; früher waren diese 50 bis 60 Prozent der Fälle.
In dieser Ablehnung wünscht das Bundesamt, dass das Kirchenasyl binnen drei Tagen beendet wird. Die Flüchtlinge bitten aber weiter um Kirchenasyl. Die Kirchengemeinden gewähren allermeist weiter Kirchenasyl, in der Hoffnung, dass mit den Behörden noch ein anderer Weg gefunden wird. Manchmal läuft darüber die 6 Monate Frist aus und es wird von staatlicher Stelle Selbsteintritt erklärt.
„Kirchenasyl soll nicht den Staat in Frage stellen, sondern die Humanität im Staat stärken. Es geht darum, einem übergeordneten Ziel des Rechts zur Geltung zu verhelfen.“
Beobachten Sie Tendenzen bzgl. der persönlichen Situation der Geflüchteten?
Was sich verändert hat, ist, dass wir heute in mehr europäischen Ländern einen sehr menschenunwürdigen Umgang mit Geflüchteten haben. Nach Aussagen der Politik vor Ort ist das Vorgehen vor Ort nicht zu beanstanden, aber Nichtregierungsorganisationen decken immer wieder das Gegenteil auf: Menschen werden im Wald auf der Flucht „gestellt“, ihre Handys werden ihnen abgenommen und zertreten, und sie werden nackt zur Grenze zurückgeschickt. Beschwerden, die deswegen an die örtlichen Behörden gerichtet werden, versanden oft innerhalb des Systems.
Das Kirchenasyl hat in der Vergangenheit auch schon dazu gedient aufzuzeigen, dass die Lage in bestimmten Ländern für Geflüchtete trotz anderslautender offizieller Haltung nicht tragbar ist: Menschen, die über diese Länder einreisten, kamen zuerst ins Kirchenasyl, danach entschieden die Gerichte in entsprechenden Verfahren gegen die Abschiebung dorthin.
Früher waren es oft Fälle, die direkt in ihr Herkunftsland abgeschoben werden sollten, über deren Asylantrage bereits endgültig entschieden worden war, also keine „Dublin“-Fälle. Die Geflüchteten waren in den Gemeinden oft bekannt und integriert. 2004/2005 wurde die Härtefallkommission* eingerichtet, danach gingen diese Fälle zurück.
In der Folgezeit kamen mehr „Dublin“-Flüchtlinge; zurzeit fallen 98 Prozent aller Kirchenasylfälle darunter.
*Härtefallkommission: Eingerichtet bei der Landesregierung; sie kann in Härtefällen trotz Ausreisepflicht bei dringenden humanitären oder persönlichen Gründen das Justizministerium ersuchen, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (§ 23a Zuwanderungsgesetz).
Die meisten Menschen, die um Kirchenasyl bitten, sind über ein anderes europäisches Land nach Deutschland eingereist und wenden sich gegen die Rücküberstellung dorthin. Bild: Kris / Pixabay
Gibt es Missverständnisse bei Betroffenen, im allgemeinen Sprachgebrauch oder in der Bevölkerung?
Manche der Geflüchteten gehen davon aus, dass sie sich im Kirchenasyl frei bewegen können, wie in einer Flüchtlingsunterkunft. Das ist aber nicht der Fall. Sobald sie das Kirchengelände verlassen, können sie theoretisch verhaftet werden. Das ist in Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten jedoch nicht passiert. Es gibt aber keine Garantie, dass dies nicht geschieht. Ebenso wenig gibt es einen garantierten Schutz vor Abschiebung.
In manchen Bundesländern wird das Kirchenasyl liberaler gehandhabt, das führt auch zu Missverständnissen. Wir achten hier darauf, dass die Betroffenen jederzeit für die Behörden greifbar sind, gemäß den Absprachen mit den Behörden. Wir handhaben das Instrument des Kirchenasyls auch restriktiv und nehmen nur besondere Härtefälle auf, damit das Kirchenasyl als letzte Möglichkeit in Einzelfällen nicht geschwächt wird.
Erster Bericht von Landesbischof Gohl vor der Synode
In seinem ersten Bericht vor der 16. Landessynode beleuchtete Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl aktuelle Herausforderungen der Landeskirche. Außerdem legte er dar, wo die Schwerpunkte der kirchlichen Arbeit in der kommenden Zeit liegen sollten.
Bis 2030 sollen die Pfarrstellen um ca. 25 % auf 1.078 reduziert werden. Das erfordert u. a. auf Bezirksebene regio-lokale Zusammenarbeit. Das Verhältnis von durchschnittlich 1.800 Gemeindegliedern pro Gemeindepfarrperson kann gehalten werden.
Bei der Frühjahrstagung der Württembergischen Evangelischen Landessynode am Freitag, 24. März, im Stuttgarter Hospitalhof hat Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl seinen ersten Bericht vor der Landessynode gehalten.
Am 24. und 25. März tagt die Landessynode. Auf der Tagesordnung stehen Themen wie der PfarrPlan 2030, Landesbischof Gohls erster Bischofsbericht, die Eckwerteplanung und viele weitere Themen. Sie können die Tagung hier im Livestream verfolgen.
Dass Menschen fasten, dagegen hatte der Huldrych Zwingli nichts – wohl aber gegen die formale Pflicht zum Fasten. Sein Protest: Ein Wurstessen. Sieben Wochen lang stellen wir je eine Gestalt aus der Bibel oder der Kirchengeschichte vor, die einen Aspekt des Fastens verkörpert.
Wenn wir sprechen, haben wir die Wahl: Wollen wir mit unserer Sprache den Frieden fördern oder den Krieg in unsere Kommunikation hineinlassen? Darüber denkt Claudia Müller aus der Redaktion Kirche im Privatfunk des Ev. Medienhauses in ihrem geistlichen Impuls nach.
Im letzten Teil unserer Reihe über digitale Projekte in württembergischen Kirchengemeinden stellen wir im dritten Teil „Good News für Hohenlohe“ vor: Digital-Gottesdienste aus der Region für die Region, als Streaming im Youtube-Kanal.
In vielen Gemeinden und Kirchenbezirken in der Landeskirche wächst die Arbeit mit Familien. Wir stellen in einer Serie vier Beispiele vor. In Teil 2 geht es um „familiendings“ in Mundelsheim. Die Initiative macht kreative Freizeitangebote – von Familien für Familien.
Eine neue Veranstaltungsreihe richtet sich an Ehrenamtliche in der Familienarbeit. Sie können sich an drei Freitagabenden online austauschen und erhalten Tipps für ihre Arbeit. Am Freitag, 24. März, beginnt die Reihe. Zu Gast ist Familienreferent Simon Schreiber (Gaildorf).
Die Konferenz der evangelischen und katholischen Kirchenleitungen mit ihren Spitzen-/Trägerverbänden über Kindergartenfragen hat eine Stellungnahme zum sogenannten Zukunftsparagrafen des Städtetags Baden-Württemberg an ihre Kita-Träger verschickt.
Die evangelische Kirche in Georgien besteht neben der Gemeinde in Tiflis aus nur acht kleinen Gemeinden – und doch hat sie einen Pflegedienst für rund 200 alte Menschen aufgebaut, wie er in Osteuropa selten sein dürfte. Hier können Sie diese wertvolle Arbeit unterstützen.
Am 24. und 25. März kommt die Landessynode zu ihrer Frühjahrstagung zusammen. In diesem Video führt Synodalpräsidentin Sabine Foth durch die wichtigsten Themen und lädt ein, die Beratungen vor Ort oder im Livestream zu verfolgen.