| Gesellschaft

Ein Frühwarnsystem für die Gesellschaft

Bahnhofsmission reagiert auch auf veränderte Familienmodelle

Freitag am Stuttgarter Hauptbahnhof: Siegfried Gleich steht in den Räumen der Bahnhofsmission, die im ersten Stock der Bahnhofshalle zwischen Mittel- und Nordausgang liegt. Der Rentner aus Mannheim wartet auf eine Gruppe Kinder. Er schaut kurz auf die Uhr. 20 Minuten noch, dann soll er mit ihnen im Zug sitzen und sie auf ihrer Fahrt begleiten.

Kids on Tour, das Angebot der Stuttgarter Bahnhofsmission, mit Renate Beigert und Siegfried Gleich. EMH/Braun

„Kids on Tour“ nennt sich das Programm, das die Bahnhofsmissionen und die Deutsche Bahn seit 2003 für Sechs- bis 14-Jährige anbieten. Es war so um die Jahrtausendwende als die Bahnhofsmissionen merkten, dass immer mehr Kinder allein reisten. Das war nicht sicher für die jungen Bahnfahrer. Seitdem begleiten Ehrenamtliche die Kinder.

Siegfried Gleich im Stuttgarter Hauptbahnhof.EMH/Braun

Bahnhofsmission und Deutsche Bahn reagieren damit auf veränderte Familienmodelle. Denn oft sind es Alleinerziehende, die ihr Kind zum Vater, zur Mutter oder zu den Großeltern reisen lassen möchten, aber beruflich so eingespannt sind, dass sie ihr Kind nicht begleiten können. Die Ehrenamtlichen der Stuttgarter Bahnhofsmission sind auf den Strecken Stuttgart – Hamburg sowie Köln – Stuttgart – München im Einsatz. „Das ist manchmal auch eine Herausforderung“, erzählt Renate Beigert. Die 44-Jährige leitet die Stuttgarter Bahnhofsmission. „Neulich bin ich für eine Kollegin eingesprungen und habe zwei Sechsjährige begleitet. Die beiden Mädchen haben mir die ganze Fahrt über Stichworte zugeworfen und ich musste zu den Stichworten Märchen erfinden.“

Heute fährt Louis (Name von der Redaktion geändert) mit. Er ist der Routinier in der Kindergruppe von Siegfried Gleich. Vor einem Jahr ist er mit seinen Eltern von Stuttgart nach Hamburg gezogen. Seitdem besucht er immer wieder mal seinen besten Freund und dessen Familie in der Landeshauptstadt. Kids on Tour sei Dank.

Meist reist ein Ehrenamtlicher allein mit einem Kind oder mit einer Kleingruppe. Bei mehr als fünf Kindern kommt eine zweite Begleitperson zum Einsatz. Die Ehrenamtlichen sind geschult und vorbereitet, etwa wenn Kinder von ihren Problemen erzählen. Und sie haben altersgerechte Spiele und Bücher dabei. Am Zielort nehmen die Eltern die Kinder wieder in den Bahnhofsmissionen in Empfang. Auch eventuelle Wartezeiten können dort überbrückt werden. Die Einrichtungen sind mit Spielecken ausgestattet. „Das Schönste ist, wenn sich nach einer langen Strecke Kinder und Elternteil wieder glücklich in den Armen liegen“, sagt Siegfried Gleich. Die Nachfrage für Kids on Tour steigt kontinuierlich. Knapp 8.500 Mal wurde dieses Angebot im vergangenen Jahr gebucht.

Renate Beigert, Leiterin der Stuttgarter Bahnhofsmissionpriv./EMH

Die Bandbreite des Lebens

Doch nicht nur um junge Bahnfahrer kümmert sich die Bahnhofsmission. „Wir haben die ganze Bandbreite des Lebens vor uns“, erzählt Renate Beigert. Da kommen Obdachlose und Geflüchtete, Menschen mit psychischen Problemen oder in sozialen Notlagen, Einsame oder Leute, die ihren Anschluss verpasst haben und sich ausruhen wollen. Oder Menschen, deren Handy leer ist, auf dem sie die Fahrkarte gespeichert haben. „Es ist die Vielfalt, die mich an dieser Arbeit reizt. Ich freue mich auch darüber, dass wir als Kirche am Bahnhof den unterschiedlichsten Menschen begegnen.“ Mehr als 120 Kontakte sind es so pro Tag für Beigert, ihre vier hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zwei Jugendlichen im Freiwilligen Sozialen Jahr und die etwa 60 Ehrenamtlichen der Stuttgarter Bahnhofsmission. „Im Grund brauchen wir noch viel mehr Ehrenamtliche wie Herrn Gleich, die Kinder auf Reisen begleiten und Menschen am Bahnhof helfen“, sagt Beigert. Zumal in Stuttgart, wo die Wege durch den Bahnhofsumbau viel länger geworden sind.

Erstanlaufstelle

Renate Beigert versteht die Bahnhofsmission aber vor allem als Erstanlaufstelle, weniger als Beratungsstelle oder Tageseinrichtung. Viele ihrer Besucher vermittelt sie an entsprechende Stellen weiter, zum Beispiel an eine Obdachlosenunterkunft oder an die Psychiatrie. Manchmal geht das nicht. Etwa wenn Roma Probleme haben. Dann sei die Bahnhofsmission Erst- und Letztanlaufstelle zugleich, einfach weil es keine Hilfsangebote für diese Gruppe gebe. „Bahnhofsmissionen sind eben auch so etwas wie ein Seismograf für die Gesellschaft, weil sie früher wie andere mit Problemlagen konfrontiert sind“, betont Beigert die Frühwarnfunktion. Das war schon so, als die erste Bahnhofsmission 1894 in Berlin gegründet wurde. Es galt, Menschen unterwegs Schutz und Hilfe zu bieten. Damals waren es vor allem Frauen, die diese Hilfe in Anspruch nahmen. Die evangelische und katholische Kirche arbeiteten von Anfang an eng zusammen, die älteste ökumenische Struktur im Bereich der offenen sozialen Arbeit entstand.

Stephan Braun

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