03.12.2025

Gottesdienste für verwaiste Eltern: Ein Interview mit Pfarrer Jürgen Stauffert

"Damit sie etwas finden, das ihrer Seele guttut. Damit sie ihr verstorbenes Kind gut bei Gott aufgehoben wissen. Damit ein Gedanke in der Seele leuchten kann, bei aller Trauer"  

Am zweiten Sonntag im Dezember begehen Menschen weltweit den „Worldwide Candle Lighting Day“ – einen Gedenktag für verstorbene Kinder. Angehörige sind an diesem Tag eingeladen, verstorbenen Kindern, Enkel und Geschwistern besonders zu gedenken. In der Landeskirche gibt es in vielen Gemeinden dazu besondere Gottesdienste, die verwaisten Eltern und Angehörigen Raum für Trauer, Hoffnung und Gemeinschaft geben. Pfarrer Jürgen Stauffert, Kirchengemeinde Erlenbach im Kirchenbezirk Weinsberg-Neuenstadt, spricht im Interview über diesen für ihn wichtigsten Gottesdienst im Kirchenjahr, die Bedeutung dieses Rituals und was er in Begegnungen mit verwaisten Eltern über deren Trauerprozesse erfährt.

Pfarrer Jürgen Stauffert von der Kirchengemeinde Erlenbach im Kirchenbezirk Weinsberg-Neuenstadt
Pfarrer Jürgen Stauffert von der Kirchengemeinde Erlenbach im Kirchenbezirk Weinsberg-Neuenstadt

Herr Stauffert, Sie gestalten seit vielen Jahren Gottesdienste für Menschen, die um ein Kind trauern. Was geschieht bei einem solchen Gottesdienst?

Jürgen Stauffert: Zunächst wissen die Trauernden, dass um sie herum Eltern sind, die ebenfalls ein Kind verloren haben. Sie spüren und erfahren: Ich bin mit meiner Trauer nicht allein. Vorne am Altar stehen große Herzen, an denen die Namen der Kinder befestigt sind. Viele Eltern und Angehörige kommen alljährlich in diese Gottesdienste, auch wenn der Verlust schon Jahre zurückliegt. Und immer wieder kommen weitere hinzu, deren Kinder erst vor kurzem gestorben ist und bei denen die Trauer noch sehr, fast unerträglich schmerzlich ist.

Zu Beginn erhalten sie eine Kerze, bringen sie zum Altar, lesen dort den Namen ihres Kindes und erinnern sich. Musik von der Orgel wird nicht gespielt, da diese von vielen als bedrückend empfunden wird. Die Gemeindelieder werden mit dem Piano begleitet, eine junge Frau singt, ich spiele Mundharmonika. Viele verwaisten Eltern, Angehörige, Familien lassen sich persönlich segnen. Sie legen ihre Hände in die Hände meines Kollegen oder in meine – manche lassen den Kopf hängen, blicken zu Boden, andere schauen mir erwartungsvoll in die Augen. Ich lege meine Hände auf ihre und spreche Worte, die ich zuvor in der Predigt mitgab. Intensive Momente, weil bei jeder Berührung tiefe Trauer und unstillbare Sehnsucht mitschwingt. Manche Eltern kenne ich schon länger, die mir von ihren Geschichten und Wegen erzählt haben.

Nach dem gefühlvollen Gottesdienst kommen viele ins Gemeindehaus, um bei Kaffee und Kuchen von sich zu erzählen, um sich bei anderen Rat zu holen, die schon weiter sind, um Kontakte zu knüpfen, um sich zu stärken. Es wird getrauert und auch gelacht. Das Leben geht weiter. Das anfängliche Fallen ins Bodenlose hört auch mal wieder auf.

Was kann der Gottesdienst in solch einer Situation für trauernde Eltern bieten?

Stauffert: Der Gottesdienst bietet und eröffnet einen Raum mit Ritualen, Musik, Gebeten und Gesängen in die eigene Seele und hoffentlich in den Himmel hinein, wo die Trauernden das Kind aufgehoben wissen wollen: „Dort geht es dir gut, aber ich vermisse dich hier so sehr.“ 

Generell sind das die intensivsten Momente des Jahres. Ich bin seit vielen Jahren immer wieder mal bei der Selbsthilfegruppe, einmal waren wir gemeinsam paddeln, ich kenne manche Geschichten und denke mir „Was für ein immerwährender Schmerz.“ Viele berichten, dass der erste Gedanke morgens beim Aufwachen und abends beim Einschlafen dem verstorbenen Kind gehört. Eine Mutter sagte: „Anfangs scheint die Sonne dunkel.“

Wie erleben Sie die Stimmung während des Gottesdienstes und danach?

Stauffert: Viele Eltern sind zunächst bei sich und den Gedanken an ihr Kind. Vor dem Gottesdienst sind viele angespannt. Schon Tage und Stunden davor kommen viele in eine besondere Stimmungslage. Sie wissen, es wird traurig, Gefühle dürfen hochkommen und sie erwarten, dass es doch auch irgendwie schön und berührend wird. Wenn sie sich im Gottesdienst sozusagen wohlfühlen in der Trauer, aber möglicherweise mit Hoffnung – durch die Musik, die Kerzen, die Predigt –, dann ist es gut. Dann löst sich die Anspannung allmählich, man gibt sich hin, hört zu und in sich hinein, fühlt sich hoffentlich aufgehoben und hindurch begleitet. Manche erzählen mir danach ihre Geschichte und bedanken sich.

Es ist ein langer, anstrengender Tag für die verwaisten Eltern und die Angehörigen, denn viele gehen danach noch ans Grab und legen ab, was sie im Gottesdienst mit auf den Weg bekommen haben. Sie beschäftigen sich auch mit ihrem Glauben, dem Zweifel, oft auch der Wut und der Anklage: „Warum hat Gott mir mein Kind genommen?“ Im Gottesdienst darf es keinen billigen Trost geben.

Welche Rolle spielt die Gemeinschaft bei so einem Gottesdienst?  

Stauffert: Eine zentrale. Viele Betroffene werden einsam, weil sie gerne von ihren gestorbenen Kindern erzählen möchten, ja müssen. Aber für Freunde und Wegbegleiter wird es lästig, oder sie sind verunsichert. Soll man darüber sprechen? Soll man fragen? Manche wenden sich ab, weil sie mit der Trauer nicht umgehen können. Oder wollen. Es ist eine schwierige Situation für alle.

Dieser Gottesdienst ist ein Ort, an dem man neue Kontakte knüpfen kann, sich versteht und erträgt. Man kann frei und vor allem angstfrei über die Trauer reden – und über die Geschichten dahinter: Unfall, Krankheit, Suizid ...

Für mich ist dieser Gottesdienst der wichtigste im Kirchenjahr. Hier bin ich als Pfarrer am meisten gefordert. Hier darf und kann ich einbringen, was Kirche und Religion über Jahrhunderte in Texten und Liedern an Weisheit und Hoffnung, Anklage und Klage, Zweifel und Gewissheit, Schmerz und Erlösung angesammelt haben. Jedes Wort, jede Geste muss stimmen und wohlüberlegt sein. Es ist wahnsinnig intensiv. Immer wieder kommen mir selbst am Tag zuvor die Tränen, wenn ich an den Worten der Predigt arbeite, in der Hoffnung, dass es gut wird.

Wie kam es zu dem Gottesdienst für Eltern von verstorbenen Kindern?

Stauffert: Die Leiterin der „Verwaisten Eltern Heilbronn e. V.“, Rosemarie Vogt, hat nach dem Tod ihres Kindes einen Trauergottesdienst in Tübingen besucht und von dort den Wunsch mitgenommen, ob es so etwas auch in Neckarsulm geben könnte, denn sie wohnt im Nachbarort Erlenbach. Der Stadtpfarrer gestalte den ersten Gottesdienst, ich war noch neu in Erlenbach und wurde dazu eingeladen. Mein kleiner Beitrag damals: Ich spielte auf der Mundharmonika „Von guten Mächten“. Seit 25 Jahren bin ich nun dabei.

Was ist Ihnen bei diesem sensiblen Thema besonders wichtig?

Stauffert: In der Vorbereitung ist es ganz wichtig, aufmerksam zuzuhören. Ich habe selbst den Tod eines Kindes nicht erlebt. Deshalb frage ich nach: Wie fühlt sich das an? Was bewegt einen? Ich möchte es so gut wie möglich zur Sprache bringen. Ich lese der Leiterin der Selbsthilfegruppe die Predigt am Samstagabend vor, um sicherzugehen, dass wirklich jedes Wort stimmt. Ich gebe wieder, was ich in den Gesprächen zu hören bekam und mir anvertraut wurde an Gedanken, Worten, Stimmungen. Jedes Wort muss stimmen, damit die Menschen mit meinen Worten etwas finden, das ihrer Seele guttut, und ein Gedanke in der Seele wirken, gar leuchten kann, bei aller Trauer.

Gibt es etwas, das Sie Eltern von verstorbenen Kindern besonders mit auf den Weg geben möchten?

Stauffert: Für mich ist es ein Klang – der Klang „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“. Ein Satz von einem anderem. [Anm. der Redaktion: Ein geistlicher Text und ein heute viel gesungenes Lied des evangelischen Theologen und NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer.]

Da ist ein Trost, der nicht von mir kommt, sondern den die Eltern sich gegenseitig geben: Es kommt der Moment, in dem man wieder scherzen und lachen kann, sich was Farbenfrohes anzieht und Ausflüge und Feste wieder genießen kann – ohne das Kind zu vergessen, es ist dabei.

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