
Martin Luther wurde im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Höhepunkt der Lutherverehrung wurde das Reformationsjubiläum 1917. Der Vater der Lutherrenaissance war der württembergische Theologe Karl Holl. Dietrich Bonhoeffer war sein Schüler, aber auch viele nationalsozialistische Theologen beriefen sich auf ihn.
Karl Holl machte eine klassische württembergische Theologenkarriere: der Großvater war Zollbeamter, der Vater Oberrealschullehrer, Karl wurde Stiftler in Tübingen, 1891 dort Repetent. Geprägt wurde er in seiner Studentenzeit von der evangelischen „Tübinger Schule“ unter Ferdinand Christian Baur. Mit ihm hielt die historisch-kritische Methodik Einzug in die gesamte evangelische Theologie – also nicht nur bei den Bibelwissenschaften, sondern auch in der Kirchengeschichte. Das war damals revolutionär neu gedacht und löste gewaltige Erschütterungen unter den Christen bis weit in die Gemeinden hinein aus.
Fleiß und Neues Denken
Nachdem er Repetent am Stift war, bezog er 1894 eine Stelle als Hilfsarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Berlin. 1896 habilitierte er dort an der Theologischen Fakultät und wurde 1900 außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Tübingen, ab 1906 dann ordentlicher Professor in Berlin.
Sein Forscherdrang war unersättlich. Um kirchengeschichtlich die russisch-orthodoxe Kirche besser zu verstehen, lernte er nebenbei russisch. Seine Forschungen über die Kirchenväter machten ihn in der Fachwelt berühmt.

Seine größte Bedeutung erreichte er mit seinen Forschungen über Martin Luther. Im Zuge des Nationalismus war auch Martin Luther quasi wiederentdeckt worden. Aber seltsam national umnebelt und irgendwie wichtig für die deutsche Geschichte, die im 19. Jahrhundert erst mal entwickeln musste, was „deutsch“ bedeutete. Karl Holl setzte hier theologische Meilensteine, in dem er die Rechtfertigungslehre Martin Luthers neu betonte und das Gottesverhältnis Luthers in den Mittelpunkt der Lehre stellte. Er arbeitete Luthers Gewissensentscheidung heraus und machte aus dem Luthertum eine „Gewissensreligion“. Seine Kritiker warfen ihm vor, Luther zu sehr als modernen Menschen darzustellen.
Jedenfalls entfachte er so eine Lutherrenaissance in der deutschen Theologie der Kaiserzeit, die begeistert aufgenommen wurde. Aber auch von denen, die nun Martin Luther national vereinnahmten und ihn als Deutsche Christen rassistisch „verdeutschten“.
Karl Holl dachte anders. Das zeigt seinen Einfluss bei Dietrich Bonhoeffer und in der Dialektischen Theologie.
Jürgen Kaiser