
Wilhelmine Friederike Gottliebin Canz wurde am 27. Februar 1815 in Hornberg im Schwarzwald geboren. Nach dem Tod des Vaters zog sie mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Karl Wilhelm Theophil Canz (1812–1854) nach Tübingen, der dort Theologie studieren wollte. Grundlage ihrer Bildung war die jahrelange Teilnahme am Privatunterricht des Bruders.
Im Jahr 1839 wurde ihr Bruder auf die Pfarrstelle in Buchenberg bei Königsfeld berufen, dem Wilhelmine dorthin folgte. Als leidenschaftlicher Anhänger der Hegel‘schen Philosophie versuchte Karl, auch seine Schwester dafür zu begeistern. Die Begegnungen mit der Brüdergemeine in Königsfeld vertieften Wilhelmines religiöse Überzeugungen und führten zu einer bewussten Hinwendung zum tiefen christlichen Glauben.
1844 zog die Familie mit Karl zu dessen neuem Wirkungsort Bischoffingen. Wilhelmine begann in dieser Zeit mit dem Schreiben des Romans Eritis sicut Deus (Ihr werdet sein wie Gott), der 1853 zunächst anonym veröffentlicht wurde. Er thematisiert die Lebens- und Glaubenskrisen der Protagonistin Elisabeth Schärtel und ihres Ehemanns Robert. Das Werk stellt eine kritische Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauß’ Buch Das Leben Jesu dar und löste in der Öffentlichkeit heftige Kontroversen aus. In einer Zeit, in der Frauen oft wenig Gehör fanden, war eine solche Stellungnahme gewagt. Wie viele Frauen konnte sie sich lediglich im diakonischen Bereich entfalten. In Bischoffingen setzte sie sich intensiv mit der Kleinkinderpflege auseinander.

Bei einem Treffen mit Regine Jolberg (1800–1870), Gründerin verschiedener Kindertagesstätten und einer Ausbildungsstätte für Kinderpflegerinnen im badischen Nonnenweier, wurde sie von dieser dazu ermutigt, eine vergleichbare Ausbildungsstätte in Württemberg zu schaffen.
Sie begab sich 1854 nach Stuttgart, um von kirchlicher Seite offizielle Unterstützung für ihr Vorhaben zu erhalten. Bei Prälat Sixt Carl Kapff (1805–1879) und dem Korntaler Pfarrer Jakob Heinrich Staudt (1808–1884) stieß ihr Ansinnen auf Ablehnung. Ihr wurde nahegelegt, von weiteren Anstaltseröffnungen abzusehen. Erst der unerwartete Tod ihres Bruders Karl im September 1854 brachte sie dazu, sich umzuorientieren und endgültig die Entscheidung zu treffen, eine Ausbildungsstätte für Kinderpflege zu gründen.
Am 18. Oktober 1855 zog Wilhelmine auf Einladung von Pfarrer Karl August Spring (1807-1857) im Alter von 40 Jahren mit ihrer Nichte Amalie Rhode nach Großheppach im Remstal. Mit der Aufnahme der ersten beiden Lernschwestern am 3. Mai 1856 wurde dort ihre Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen offiziell eröffnet. Diese Institution sollte das erste Mutterhaus der Großheppacher Schwestern werden und einen Meilenstein in der Geschichte der Kleinkinderpflege und der Ausbildung von Fachkräften in Württemberg darstellen.

Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der jungen Frauen, die zur Ausbildung dorthin kamen. Das ursprüngliche Gebäude wurde bald zu klein. Wilhelmine Canz zog mit den Lernschwestern in das ehemalige „Gasthaus zum Löwen“, das mit Unterstützung des Wohltätigkeitsvereins 1863 erkauft, zum neuen Bildungszentrum wurde.
Im Jahr 1877 wurde die Bildungsanstalt offiziell als „Mutterhaus für Evangelische Kleinkinderpflege“ bezeichnet, und 1881 erhielt die Einrichtung unter der Schirmherrschaft von König Karl von Württemberg (1823–1891) und seiner Frau Olga (1822–1892) eine staatlich anerkannte Rechtsgrundlage.
Bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 1896 leitete Wilhelmine Canz die Bildungsanstalt über 40 Jahre hinweg.
Bei ihrem Tod, kurz vor ihrem 86. Geburtstag, am 15. Januar 1901, als sie als „Mutter Canz“ verehrt wurde, zählte die „Großheppacher Schwesternschaft“ 350 Mitglieder. Ihr Grab befindet sich bis zum heutigen Tag auf dem Friedhof in Großheppach.
Heute hat das Werk ihren Namen bewahrt und residiert in Beutelsbach. Es umfasst neben dem Mutterhaus eine evangelische Fachschule für Sozialpädagogik, eine Fachschule für Altenpflege, ein Wohn- und Pflegeheim sowie ein Kinder- und ein Gästehaus.
Dr. Jakob Eisler