8. Juli 1925: 100. Todestag von Lotte Merkh

Wer war Lotte Merkh?

Einfach ist es nicht, das herauszubekommen. Anders als Namen wie Oberlin oder Landerer oder auch Mutter Werner - übrigens alles Gebäudenamen auf dem Bruderhaus-Gelände in Reutlingen - findet sich der Name Lotte Merkh nicht in dem bekanntesten Buch über Gustav Werners Leben und Wirken, das Paul Wurster 1888 geschrieben hat. Viele meinen, dieses Buch sei das erste Buch über die Arbeit Gustav Werners. Doch sieben Jahre zuvor hatte Nane Merkh schon ein kleines Büchlein mit dem Titel „Einige Züge aus der Geschichte des Bruderhauses“ drucken lassen. In diesem Buch finden wir den Namen ihrer Schwester Lotte Merkh. So ist das Buch der Schwester neben der Zeitschrift „Friedensblätter“, die zunächst von Nane und nach deren Tod von Lotte Merkh herausgeben wurde, die Hauptquelle, aus der wir etwas über Lotte erfahren. Lotte war nämlich fast ihr ganzes Leben lang Hausgenossin Gustav Werners.

Lotte Merkh wurde 1839 in Reutlingen geboren und zwar als Jüngste von sieben Schwestern und einem Halbbruder. Ihre Eltern zählten zum Mittelstand. Der Vater war zwar Handwerker, aber sehr gebildet. Die Eltern besaßen „ein eigenes Haus, zwei Kühe, einen kleinen Laden, acht Kinder, aber nur keine Kapitalien, sondern Schulden“, was vor allem die Mutter belastete. Die Sorgen der Mutter war der „einzige Schatten in der Jugendzeit“ der Töchter. Positiv vermerkt Nane die mit den Schulden einhergehende Erziehung zur Einfachheit, Sparsamkeit und Mäßigung. Sie schreibt: „Was man in der frühesten Jugend gewöhnt wird, das verliert sich im ganzen Leben nicht mehr; so kam es auch, daß wir in die einfache Lebensweise des Bruderhauses uns so leicht finden konnten; wir wurden es daheim gewöhnt.“ 

Umzug ins Bruderhaus

Diese „Gewöhnung“ hat sich als die rechte „Grundausbildung“ für Lotte erwiesen. Denn Anfang März 1853, etwa vier Wochen, bevor Lotte konfirmiert wurde, starben innerhalb von zwei Tagen Mutter und Vater. Bei der Beerdigung hatten sich Verwandte erboten, Lotte zu sich zu nehmen, aber dann ließen sie nichts mehr von sich hören. So zog die vierzehnjährige Lotte zu ihrer Schwester Nane, die schon seit November 1852 im Reutlinger Bruderhaus lebte. Bis Ende des Jahres 1854 kam auch die letzte der Schwestern ins Bruderhaus.

Lotte wurde von Sophie Schöller „sogleich in Unterricht und Erziehung genommen“ - mehr als es der Schwester Nane lieb war. Sophie Schöller war eine der ersten Elementarlehrerinnen in Württemberg, die auf Gustav Werners Betreiben eine Ausbildung und staatliche Prüfung gemacht hatte. Sie hielt Lotte „wie geschaffen zu einer Lehrerin“ und gab sich „alle Mühe, sie ganz und in allen Theilen nach sich zu bilden“. 

Lehrerin im Schwarzwald und in Reutlingen

Bereits drei Jahre später, also 1856, kam Lotte in den Schwarzwald nach Roth zu den Kindern. Dort konnte sie „alles anwenden, was sie gelernt hatte, sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht“. Da es in der Ortsschule in Roth „an allem fehlte“ und die Kinder „alles mögliche mit heim brachten, was in einer Anstalt nicht sehr erwünscht ist“, versuchte Lotte sie selber zu unterrichten. Sie begann in der Sonntagsschule mit den Größeren, hat dann aber doch noch eine Art Seminar-Ausbildung bekommen. 

In Reutlingen war sie dann anschließend viele Jahre als Lehrerin tätig und zwar in der Kleinkinderschule „auch für arme Kinder der Stadt“, die Gustav Werner 1850 mit Genehmigung des Konsistoriums eröffnet hatte. Diese Schule entwickelte sich gut und hatte 1861 drei Klassen für 130 bis 140 Kinder. Ende September 1885 musste Lotte den Lehrberuf in Folge einer Nervenerkrankung im rechten Fuß aufgeben.

Das Bruderhaus in Reutlingen 1865/1866, Zeichnung von Wilhelm Maybach

Dominierende Person unter den Hausgenossinnen

In den folgenden Jahren leitete Lotte das große Strickwarengeschäft des Mutterhauses in Reutlingen. In diesem Geschäft wurden wesentliche Beiträge zur Finanzierung der Häuser und Fabrikgebäude erwirtschaftet. Später hatte sie eine leitende Stellung im Büro der immer größer werdenden Gustav Wernerschen Anstalten inne. Von ihr sollen die Pläne des Kinderhauses in der Gustav-Werner-Straße stammen, einem freundlichen, dreistöckigen Backsteinbau, der 1883 bezogen wurde.

Nach dem Tod der Schwester Nane 1896 wurde Lotte „für mindestens zwei Jahrzehnte zur dominierenden Gestalt unter den Hausgenossinnen, die den Geist und das Leben innerhalb des Bruderhauses entscheidend prägte“. In der Nachfolge ihrer Schwester gab sie ab 1897 die Friedensblätter, später „Friedensbote“, heraus. Eine ganze Reihe von Texten in diesen Heften stammen aus ihrer Feder, ohne dass sie ihre Autorenschaft gekennzeichnet hat. 

Frauen in der Überzahl 

Auch in dem Buch „Vater Werner – Bilder aus seinem Leben und Wirken“, das sie 1909 zum 100. Geburtstag Gustav Werners herausgab, findet sich auf der Titelseite nicht ihr Name. Nur unter der Einleitung weisen die Buchstaben L.M. auf Lotte Merkh als Herausgeberin hin. In dieser Einleitung findet sich eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Redeweise. Lotte spricht an einer Stelle von „Mitarbeitern und –arbeiterinnen...“ Die ausdrückliche Erwähnung von Mitarbeiterinnen trägt wohl der unübersehbaren Tatsache Rechnung, dass Frauen in der Hausgenossenschaft in der Überzahl waren. 1887 etwa standen in der Hausgenossenschaft 28 Männer 114 Frauen gegenüber.

Im „Nachtrag“ ihres Buches schreibt Lotte über die Hausgenossenschaft: Sie „war der Arm, mit dem Vater Werner seine Anstalten bauen und in Ordnung halten konnte. Sie gingen auf seine Pläne ein und halfen, dieselben auszuführen. Daher schätzte er sie auch und tat nichts ohne sie. „Ich muß meine Leute vorher darüber hören oder es ihnen sagen“ war die oft von ihm gehörte Rede. Er wusste, dass sie der ausführende Teil sein mußten, daher beehrte er sie auch mit seinem Vertrauen. Dieses Vertrauen belohnten sie durch Treue und hingebenden Dienst.“ 

Gustav Werners Werk nur Dank seiner Hausgenossinnen möglich

Ihre literarische Tätigkeit war zusammen mit der ihrer Schwester Nane wohl der wichtigste Beitrag für die Pflege des Andenkens an Gustav Werner in und außerhalb der Stiftung. Wo über diesem Andenken aber Lotte Merkh selbst und die anderen Frauen in die Vergessenheit geraten, kann man über Gustav Werner nur als einen Mann ohne Arme reden. Waren doch vor allem diese Frauen sein „Arm, mit dem ...<er> seine Anstalten bauen und in Ordnung halten konnte“, seine Ratgeberinnen, die er hören musste, ohne die er nichts tat und die er mit seinem Vertrauen ehrte. 

Am 8. Juli 1925 starb Lotte Merkh nach jahrelanger Krankheit im Alter von 86 Jahren. 

Dorothee Schad

 

Quellen: 
Nane Merkh, Einige Züge aus der Geschichte des Bruderhauses, 1881
Paul Wurster, Gustav Werner – Leben und Wirken, 1888
Lotte Merkh, Vater Werner – Bilder aus seinem Leben und Wirken, 1909

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