02.10.2025

„Es wird vergessen gemacht, dass es den 7. Oktober 2023 überhaupt gab“

Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl besucht Prof. Barbara Traub in der Stuttgarter Synagoge

Seit dem Massaker durch die Hamas hat sich auch für die jüdischen Gemeinden in Württemberg viel verändert: ein Besuch von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl bei Prof. Barbara Traub in der Stuttgarter Synagoge. Hier finden Sie einen ausführlichen Bericht sowie ein Video über das Gespräch. 

Zum 2. Jahrestag des 7. Oktober: Gespräch in der Synagoge Stuttgart

Die Lichter der Poller auf dem Vorplatz der Synagoge spiegeln sich auf dem nassen Boden. Es ist ein regnerischer Herbstabend, an dem sich Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl und Prof. Barbara Traub, Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), treffen. Gohl geht vorbei an den Pollern und der Polizei, die die Synagoge bewacht. In der Synagoge muss er zunächst die Sicherheitskontrolle durchlaufen. Für die Jüdinnen und Juden, die regelmäßig in die Synagoge kommen, seit Jahrzehnten in ihren Einrichtungen in ganz Deutschland ein gewohnter Vorgang. Im Inneren der Synagoge angelangt, steht ein großer Stapel mit Paketen von Online-Versandhändlern, Drogeriemärkten und mehr. 

Prof. Barbara Traub und Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Grossen Synagoge in Stuttgart
Prof. Barbara Traub und Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Großen Synagoge in Stuttgart

„Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Jüdinnen und Juden sich heute wieder fragen müssen: Bin ich erkennbar als Jude, als Jüdin hier in Stuttgart?“ 

Was es denn mit den ganzen Paketen auf sich habe, fragt Gohl direkt, als ihn Prof. Traub begrüßt. Viele ihrer Gemeindemitglieder ließen sich mittlerweile ihre Post nicht mehr nach Hause schicken. Sie möchten nicht, dass Zusteller oder Nachbarn ihre jüdische Identität erkennen. Die zunehmende Welle der Ablehnung und des Unverständnisses, die nun den hier lebenden Jüdinnen und Juden entgegenschlage, sei beängstigend: „Was mich auch sehr umtreibt, ist, dass es immer mehr Gemeindemitglieder gibt, die unsere Gemeindezeitung nicht mehr zugestellt bekommen möchten, weil draufsteht 'Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg'. Sie haben Angst, dass Nachbarn oder die Lieferanten ihre Identität und ihre Adresse kennen.“ Die Gemeinde sehe sich nicht nur mit kritischen Blicken auf Israel konfrontiert, so Traub, sondern zunehmend auch auf sich selbst, müsse sich nun ständig rechtfertigen. Auch verbale Übergriffe gäbe es. „Unvorstellbar, dass es evangelischen Kirchenmitgliedern so gehen würde“, erwidert Gohl. „Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Jüdinnen und Juden sich heute wieder fragen müssen: Bin ich erkennbar als Jude, als Jüdin hier in Stuttgart?“ Der Glaube müsse für Jüdinnen und Juden frei gelebt werden können.  

Damit sind beide direkt im Gespräch und beim Anlass des Besuchs des Landesbischofs in der Synagoge angekommen: Am 7. Oktober ist der zweite Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel mit über 1.200 Toten vom Kleinkind bis zum Greis – dem schlimmsten Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust, der Shoa. Es gab 4.100 Verletzte, mehr als 200 Geiseln wurden von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt, 20 sollen dort noch am Leben sein. Die meisten Gemeindemitglieder hätten Familie in Israel, sagt Traub. Sofort, als der Anschlag hier bekannt wurde, hätten viele zum Telefon gegriffen: „Geht es euch gut?“  

„Die Hamas hat den Propagandakrieg gewonnen“ 

Die Auswirkungen des 7. Oktober seien erst nach und nach bewusst geworden – durch die Bilder und Videos, mit denen sich die Hamas mit ihren Gräueltaten brüstete, aber auch durch das, was der Angriff in Deutschland ausgelöst habe. Traub betont, dass mit dem brutalen Massaker der Hamas in Israel auch hier in Deutschland ein Gefühl der Sicherheit verloren gegangen sei. 

Anfangs habe es viel Unterstützung gegeben, doch diese sei innerhalb weniger Monate stark zurückgegangen. Die beispiellose Eskalation des Nahostkonflikts seit dem 7. Oktober 2023, besonders die Situation in Gaza, wirke sich auch auf die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland aus. Traub sagt: „Jetzt ist es so, dass wir uns manchmal auch regelrecht isoliert fühlen.“ Vieles habe sich für die jüdischen Gemeindemitglieder verändert – ohnehin vorhandene antisemitische Tendenzen hätten sich verschärft. Seit über 20 Jahren arbeitet Traub in der Repräsentanz der jüdischen Gemeinde. „Ich habe meine Arbeit immer so verstanden, dass wir uns öffnen, rausgehen und unser Judentum selbstbewusst vertreten.“ Im September wurde unter großer Beteiligung der Stuttgarter Stadtgesellschaft die Einweihung des neugestalteten Synagogenvorplatzes gefeiert. Doch wenn Gemeindemitglieder sie anrufen und sagen würden, sie möchten keine Gemeindezeitung mehr erhalten, frage sie sich: „Wie kommen wir mit unserer Arbeit voran? Hält diese Gesellschaft durch und ist sie stark genug, dass sie uns darin unterstützen kann?“  

In der gesellschaftlichen Betrachtung und in der Bewertung sei der Ausgangspunkt – das Massaker der Hamas vor zwei Jahren – für den Krieg im Nahen Osten vollständig in den Hintergrund gerückt. Auch, dass die Hamas in Gaza seither israelische Geiseln und palästinensische Zivilisten gleichermaßen als menschliche Schutzschilde benutze und deren Opfer zynisch in Kauf nehme, werde hier kaum wahrgenommen. Stattdessen schlage die Stimmung um. „Die Hamas hat den Propagandakrieg gewonnen“, sagt Traub. „Israel und die Juden werden als Aggressoren dargestellt, die palästinensische Seite als reine Opfer. Dabei wird vergessen gemacht, dass es den 7. Oktober überhaupt gab.“ Auch Gohl betont: „Es wird auch vergessen gemacht, dass Israel seit seiner Gründung um seine Existenz kämpfen muss.“  

Prof. Barbara Traub und Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Grossen Synagoge in Stuttgart
Prof. Barbara Traub und Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Großen Synagoge in Stuttgart

Israel: Trotz rechtsgerichteter Regierung einzige Demokratie im Nahen Osten – und seit Gründung in der Existenz bedrohte „Lebensversicherung“ für Juden nach dem Holocaust 

Traub sagt, die Gemeinde stehe an der Seite Israels – wenn auch nicht unkritisch. Für manche sei die aktuelle rechtsgerichtete israelische Regierung problematisch. „Aber es ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, in der Menschen auf die Straße gehen können, wenn sie der Meinung sind, dass die Regierung nicht richtig handelt – was in den anderen Staaten ringsherum nicht der Fall ist und gar nicht geschehen kann, weil das mit Gewalt niedergedrückt oder verhindert wird.“ Traub hob hervor, dass Israel für gleichberechtigte demokratische Rechte für alle Bürger stehe – für Frauen und Männer. Die Hamas hingegen verkörpere ein Gesellschaftsbild, das in Europa längst überwunden sei: „Frauen werden nicht gleichberechtigt behandelt und sogar massakriert. Und linksextreme und rechtsextreme Kräfte unterstützen dieses fundamentalistische, islamistische Weltbild.“ Gohl zeigt sich ebenfalls irritiert über die Haltung mancher Gruppen: „Gerade bei der queeren Community wundert es mich, dass man sich mit einer Organisation wie der Hamas solidarisiert – unter deren Herrschaft man das eigene Leben gar nicht leben könnte.“ In solchen Konstellationen könne sich der Antisemitismus Bahn brechen – mit uralten Stereotypen wie: „Der Jude ist schuld“ oder „Wenn es die Juden nicht gäbe, hätten wir Frieden im Nahen Osten.“ Traub resümiert: „Ich hätte nicht gedacht, wie schnell antisemitische Stereotypen wieder gesellschaftsfähig werden.“ 

Sie sagt weiter, dass viele Juden auch deshalb in Deutschland leben würden, weil es den Staat Israel gäbe: „Das Bewusstsein, dass es ein Land gibt, in dem man sowohl den religiösen Ursprung hat und die religiösen Wurzeln, und das auch ein gewisses Sicherheitsgefühl vermittelt. Und das hat sich alles so verändert seit dem 7. Oktober.“ 

In der Synagoge sind an diesem Abend gerade das Gebet anlässlich Rosh ha-Schana und damit auch die Festtage des jüdischen Neujahrsfestes zu Ende gegangen. Ob es Wünsche für das neue Jahr gibt, fragt Gohl vorsichtig an Traub gerichtet. „Dass die Distanz nicht größer wird. Dass wir im Gespräch bleiben – als Juden, Christen und Muslime.“ Gemeinschaft und Gastfreundschaft stünden bei den jüdischen Feiertagen im Mittelpunkt, im Sinne der abrahamitischen Tradition. Diese Feste seien besonders jetzt ein Kraftquell, um weitermachen zu können.  

Aufgabe der Religionen muss Bestärkung sein, nicht Ausgrenzung 

Beide würdigen die positive Entwicklung des christlich-jüdischen Dialogs in den letzten zwei Jahrzehnten. „Viele Berührungsängste sind abgebaut worden“, so Traub. Die persönlichen Begegnungen seien besonders wichtig – gerade in schwierigen Zeiten. Besonders würdigen sie die Arbeit des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart, in dem viele gemeinsame Veranstaltungen stattfinden. Diese Basis trage auch jetzt.  

Mit den Moscheegemeinden sei der Austausch jedoch weitgehend zum Stillstand gekommen. Traub berichtet, dass es zwar muslimische Kinder in der Kita und Grundschule in der jüdischen Gemeinde gäbe, aber die früher selbstverständlichen Begegnungen und Einladungen seien seltener geworden. Gohl ergänzt: „Gerade jetzt bräuchten wir Signale aus den muslimischen Communities. Der politische Konflikt hat mit den jüdischen Menschen hier nichts zu tun.“ Gohl betont: „Wenn Religion politisch instrumentalisiert wird, ist es Aufgabe religiöser Menschen, sich gegenseitig zu bestärken – nicht auszugrenzen.“ 

„Wir brauchen alle Zuversicht“, so Traub. „Unsere Aufgabe als Religionen ist es, den Menschen – unseren Mitgliedern, aber auch miteinander – Zuversicht zu geben.“ Gohl ergänzte: „Weil wir glauben, dass es mehr gibt als uns. Das befreit uns, unsere Möglichkeiten zu nutzen – im Vertrauen, dass Gott seinen Teil tut. Und wir ihm dabei möglichst wenig im Weg stehen“, lacht Gohl. „Mit etwas Demut”, ergänzt Traub ebenfalls lachend: „Wir müssen nicht die Gesellschaft umdrehen, sondern im Kleinen wirken – und Kraftquellen füllen, um gut weitermachen zu können“, sagt Traub. 

Auf dem Weg aus der Synagoge geht es wieder vorbei an den Paketstapeln der Gemeindemitglieder, der Kontrollkabine, den Pollern auf dem Vorplatz und den Polizeikräften, die auch am späten Abend noch für die notwendige Sicherheit der Besucherinnen und -besucher Sorge tragen – wie an so vielen jüdischen Einrichtungen in ganz Deutschland. 

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