09.10.2025

Feindesliebe - was ist das eigentlich? Und was heißt es, die andere Wange hinzuhalten?

Neutestamentliche Klärungen einiger hochaktueller Begriffe

Wo Menschen miteinander leben, gibt es Konflikte - vom Zoff auf dem Spielplatz über Spannungen innerhalb von Gesellschaften bis zum offenen Krieg zwischen Staaten. Jesus ist den neutestamentlichen Erzählungen zufolge Konflikten nicht aus dem Weg gegangen, aber er hat dabei zugleich eine Ethik der Friedfertigkeit gepredigt - bis hin zur Feindesliebe. Aber was sagt das Neue Testament genau zu Themen wie Nächsten- und Feindesliebe?

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sommerakademie mit Prof. Dr. Ulrich Heckel (vorne 4. von links)
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sommerakademie mit Prof. Dr. Ulrich Heckel (vorne 4. von links)

Im Juli 2025 fand im armenischen Jerewan eine Sommerakademie der dortigen Universität in Kooperation mit den Universitäten Münster und Halle statt, an der Studierende aus Deutschland, Armenien und Georgien teilnahmen. 

Zu diesem Anlass hatte die evangelisch-lutherische Kirche in Georgien, Partnerkirche der württembergischen Landeskirche, stellvertretend für das theologische Dezernat der Landeskirche Oberkirchenrat i. R. Prof. Dr. Ulrich Heckel eingeladen, um über die neutestamentlichen Grundlagen von Nächsten-, Bruder- und Feindesliebe zu sprechen - Themen, die die Studierenden angesichts der vielfältigen politischen Konflikte in der Region stark beschäftigen. Der Vortrag trägt den Titel „Feindesliebe, Bruderliebe, Nächstenliebe oder die Goldene Regel – Was gilt? Zur Auslegung des Liebesgebots im Neuen Testament“.

In den anschließenden Diskussionen ging es den Teilnehmenden vor allem „um das persönliche, existentielle Verständnis für das eigene Verhalten, zugleich aber auch um die politische Dimension angesichts der militärischen Konflikte in Armenien in den zurückliegenden Jahren“, berichtet Heckel.

Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung von Ulrich Heckels Vortrag. Den Volltext finden Sie weiter unten auf dieser Seite als Download.  

Sommertagung der 16. Landessynode.
Oberkirchenrat i. R. Prof. Dr. Ulrich Heckel

Feindesliebe, Bruderliebe, Nächstenliebe oder die Goldene Regel – Was gilt?

Ulrich Heckel

Als Jesus nach dem wichtigsten Gebot gefragt wurde, zitiert er zwei Worte aus dem Alten Testament (Mk 12,28-34): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18). 

Was die Septuaginta, d.h. die griechische Übersetzung des Alten Testaments, mit der Vergleichsformel „wie dich selbst“ wiedergibt, heißt in der Hebräischen Bibel: „er ist wie du“. Dabei ist der Vergleich „wie dich selbst“ nicht adverbial auf das „Lieben“, sondern attributiv auf den „Nächsten“ zu beziehen. Er zielt auf den Nächsten, der sich in der gleichen Situation befindet und für den die gleichen Schutzrechte gelten sollen wie für Israel in Ägypten (Lev 19,34): „er ist wie du.“ Damit wird die Nächstenliebe nicht mit der Selbstliebe verglichen, sondern es wird eine Aussage über den Nächsten gemacht, der geliebt werden soll. Maßstab des Vergleichs ist nicht die Eigenliebe, sondern die Gleich-Bedürftigkeit, wie sie Jesus durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter näher ausführt: „Geh hin und tu desgleichen!“ (Lk 10,25-37).

In der Bergpredigt spitzt Jesus das Gebot der Nächstenliebe auf die Feindesliebe zu (Mt 5,43-48). Damit reagiert er auf Erfahrungen von Verfolgungssituationen (5,10-12 u.ö.). Zugleich wendet er sich gegen zwei Missverständnisse: Zum einen widerspricht es dem Sinn dieses Gebots, die Liebe auf die eigene Gruppe, auf Verwandte, Volksgenossen oder Freunde einschränken zu wollen. Zum andern wäre es verfehlt, Liebe mit Liebe zu erwidern, Böses aber mit Bösem zu vergelten, denn Jesus will den Hass durch Liebe überwinden. 

Doch kann im Neuen Testament auch immer wieder zur Bruder- bzw. Geschwisterliebe oder Liebe untereinander ermahnt werden, wenn der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde durch Konflikte, Auseinandersetzungen (Gal 5f; Röm 14f) und Spaltungen (Joh 6,60-65; 1Kor) bedroht ist oder angesichts von äußeren Anfeindungen gestärkt werden muss (Röm 12; 1Petr). In solchen Situationen kann selbst der Verzicht auf Hass und Vergeltung, aber auch die Liebe untereinander ein Akt der Feindesliebe sein (Joh 13-16). Feindesliebe und Geschwisterliebe sind daher kein Widerspruch, sondern bilden die beiden Pole, zwischen denen das Grundgebot der Nächstenliebe facettenreich entfaltet wird. Dabei geht es nicht um die Aufteilung von Personenkreisen in Freund und Feind, sondern um die Überwindung von Hass, das Stiften von Frieden und ein faires, gemeinschaftsgerechtes Verhalten. Nicht Gefühle werden geboten, sondern ein tatkräftiges, empathisches Handeln.

Außerdem verbindet Jesus in der Feldrede das Gebot der Feindesliebe mit der Goldenen Regel (Lk 6,27-36), die in ihrer sprichwörtlichen Fassung lautet: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ (Tob 4,15). Aber seiner Logik der Liebe folgend setzt Jesus die Goldene Regel in eine positive Formulierung um: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lk 6,31; vgl. Mt 7,12). Damit hat er nicht nur die Verbotsformulierung der Goldenen Regel ins Positive gewendet, sondern diese zugleich dem Liebesgebot angeglichen. Durch die wechselseitige Verklammerung legt er einerseits beim Lieben alles Gewicht auf das Tun, richtet er andererseits das Handeln ganz an der Liebe aus. In dieser Kombination verknüpft er zugleich den absoluten Anspruch des Liebesgebots mit dem generellen Grundsatz einer Regel, versieht die unbedingte Feindesliebe mit einem praktikablen Beurteilungskriterium, das in der Gleichbedürftigkeit einen Maßstab für die Erfüllung angibt. Durch die Rückbindung an die eigenen Grundbedürfnisse („was“ bzw. „wie ihr wollt“) verlangt die Goldene Regel ebenso, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, wie die Vergleichsformel im Gebot der Nächstenliebe („wie dich selbst“, „er ist wie du“). So hat er einerseits das Liebesgebot vor einer Überfrachtung durch ethische Maximalforderungen geschützt und einem maßlosen Moralisieren gewehrt, das über andere richtet und urteilt (Mt 7,1–5; Lk 6,37). Andererseits hat er die Goldene Regel durch das Liebesgebot davor bewahrt, auf ein wechselseitiges Tauschgeschäft reduziert zu werden. Damit ist selbst das rigorose Gebot der Feindesliebe nicht idealistisch überhöht, illusorisch abgehoben, unrealistisch geworden, sondern handhabbar, machbar, erfüllbar geblieben. 

Die Goldene Regel beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, doch ein schlichtes Vergeltungsdenken lehnt Jesus ab. Der Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24) hatte im Alten Testament ursprünglich einen positiven Sinn, der im Rechtsverfahren in der Begrenzung der Vergeltung besteht und die Verhältnismäßigkeit wahrt. Jesus verbietet, diesen Grundsatz auf das persönliche Alltagsverhalten zu übertragen, d.h. Böses mit Bösem zu vergelten. Was dies bedeutet, erläutert Jesus durch drei positive Beispiele, die die Gewalt nicht einfach still hinnehmen, klaglos dulden, widerspruchslos ertragen, sondern durch ein paradoxes Entgegenkommen, ein Stück bewusster Provokation, eine Art gewaltlose Gegenprovokation das Vergeltungsdenken aufbrechen: bei einer Ohrfeige auf die rechte Backe nicht einfach zurückzuschlagen, sondern demonstrativ die andere Wange hinzuhalten, d.h. bei Rechtshändern durch einen Hieb mit dem Handrücken, der nicht auf einen Machtkampf hindeutet, sondern als entehrend gilt (Jes 50,6; Klgl 3,30); beim Pfändungsprozess eines Untergewandes das Unrecht bloßzustellen und aus freien Stücken auch den Mantel zu überlassen, den zu pfänden die Tora eigentlich verbietet (Ex 22,25f; Dtn 24,12f); bei einer erzwungenen Dienstleistung für einen römischen Soldaten (vgl. Mt 27,32) freiwillig eine weitere Meile mitzugehen. Gefordert wird keine Selbstverleugnung, sondern eine Gegenprovokation als Zeichenhandlung, um das an und für sich legale Vorgehen auf seine moralische Legitimität hin zu hinterfragen und so ein Stück weit Handlungssouveränität und Würde zurückzugewinnen. In keinem Fall ist Passivität die gebotene Antwort, in jedem Fall ist die Antwort, die Jesus vorgibt, eine Aktivität, die aus der Spirale der Gewalt ausbricht, die Logik der Vergeltung sprengt und den ersten Schritt zur Überwindung der Feindschaft geht. Die positiven Anweisungen formulieren keine allgemeingültigen Gebote, sondern Beispiele (vgl. 5,21f), wie man in einem solchen Fall handeln soll. Sie verlangen eine Übertragung, wie in einer vergleichbaren Lage zu reagieren wäre. Insofern wollen diese Gebote zwar befolgt werden, aber nicht einfach wörtlich, sondern so, dass in neuen Situationen das, was sie fordern, in Freiheit, aber in ähnlicher Radikalität immer wieder neu zu erfinden ist.

Hinweis: Eine ausführliche Fassung dieses Vortrags erscheint in: D. R. Lindsay/L. Stuckenbruck/M. Tilly (Hg.), The Great Commandment/Das Doppelgebot der Liebe (WUNT), FS H. Lichtenberger, Tübingen (in Vorbereitung).

Hinweis für Kirchengemeinden

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