| Gesellschaft

Psychologin: „Wir können nicht ruhig bleiben“

Vier ukrainische Psychologinnen über psychologische Beratung für Ukrainerinnen in Deutschland

Sie suchen in Deutschland Schutz vor dem Krieg und helfen sich gegenseitig: Vier ukrainische Psychologinnen beraten aus ihrem Heimatland geflüchtete Frauen - mit Unterstützung der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen der württembergischen Landeskirche. Wie unterstützen sie sie? Und was ist in der Situation der Frauen besonders wichtig?

Vier ukrainische Psychologinnen bieten Online-Beratungsgruppen für ukrainische Frauen an.Bild: Pixabay/Karolina Grabowska

Wie unterstützen Sie mit Ihren Online-Selbsthilfegruppen geflüchtete Ukrainerinnen?

Maryna Kuznetsova: In unseren psychologischen Selbsthilfegruppen schaffen wir einen Ort, an dem Frauen über schwierige Gefühle und Ängste sprechen können, über die sie sich mit niemandem aus ihrem Umfeld austauschen können. Wir wollen sie durch eine schwierige Zeit des Geflüchtetendaseins begleiten und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. Wir wollen ihnen auch wieder das Gefühl geben, dass sie dazugehören und verstanden werden. Die Frauen sollen wieder Kraft tanken, damit sie die schwierige Zeit der Anpassung an die neuen Lebensumstände überstehen.

„Wir wollen sie durch eine schwierige Zeit des Geflüchtetendaseins begleiten und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen.“

Psychologin Maryna Kuznetsova
Psychologin Maryna KuznetsovaFoto: privat

Was ist bei der psychologischen Beratung der Frauen besonders wichtig?

Yana Lukyanyuk: Wichtig sind Unterstützung und Akzeptanz und dass die Frauen mit den verschiedenen Gefühlen ihrer schrecklichen Realität in Kontakt kommen. Bei den ersten Treffen sollen sie Vertrauen erlernen, damit sie sich wieder für Beziehungen zur Familie, Freunden und sich selbst öffnen können. Danach sollen die Frauen dabei unterstützt werden, ihre Gefühle zu bewältigen. Es ist wichtig, dass sie sich über ihre inneren Erfahrungen bewusst werden und ihren eigenen Weg finden, um zu Kräften zu kommen.

Was bedeutet es für die Frauen, in dieser Situation trotzdem für ihre Kinder da zu sein?

Lukyanyuk: Es ist nicht leicht. Aber egal, was passiert: Kinder brauchen ein Elternteil, das sie unterstützt, versteht und alle schwierigen Gefühle und Erfahrungen akzeptiert. Besonders wichtig ist, dass die Frauen ihren Kindern dabei helfen, ihre Gefühle zu zeigen und den Verlust zu verarbeiten, ohne dass sie einen körperlichen oder psychischen Schaden davontragen.

„Besonders wichtig ist, dass die Frauen ihren Kindern dabei helfen, ihre Gefühle zu zeigen und den Verlust zu verarbeiten, ohne dass sie einen körperlichen oder psychischen Schaden davontragen.“

Psychologin Yana Lukyanyuk
Psychologin Olena IlinaFoto: privat

Von welchen belastenden Erfahrungen berichten die Frauen? Worunter leiden sie?

Olena Ilina: Sie leiden unter Heimweh nach geliebten Menschen und Angst um diese. Sie verspüren unendliche Angst und erfahren erschöpfenden Stress. Die meisten der Familien sind getrennt. Die Frauen haben ihre Ehemänner, Eltern und erwachsene Kinder zurückgelassen. Sie haben Verwandte und Freunde, die kämpfen oder sich in Städten befinden, die bombardiert werden. Die Frauen schlafen mit einem Handy in der Hand ein und wachen damit auf. Im Minutentakt erhalten sie darüber neue schreckliche Informationen. Sie sind ständig in Alarmbereitschaft. Und obwohl sie die Nachrichten und Anrufe nutzen, um Ängste abzubauen, erreichen sie eine Menge neuer traumatischer Mitteilungen.

Mit welchen Sorgen kamen die Frauen am Anfang? Und mit welchen Sorgen kommen sie jetzt?

Ilina: Zuerst haben die Frauen Gemeinschaft gesucht, um „ihre Leute“ zu finden und Erfahrungen unter „ihresgleichen“ zu teilen. Jede neue Runde von Treffen hat mit dem Austausch von „Horrorgeschichten“ über die Erfahrung des Kriegs und das Verlassen der Ukraine begonnen. Die Zeit vergeht, aber die neuen Teilnehmerinnen haben immer noch ein großes Bedürfnis, darüber zu sprechen. Sie müssen ihre Schockgefühle verarbeiten.

Wenn wir uns vorstellen, zeigen wir als erstes unsere eigene neue Identität – die von Geflüchteten. In allen Gruppen gibt es eine Sehnsucht nach der Ukraine und einem friedlichen, vertrauten Leben. Vor diesem Hintergrund werden die Probleme der Anpassung an das Leben in Deutschland, vor denen die Frauen stehen, noch verschärft. Aber alle Frauen sind Deutschland auch sehr dankbar und erstaunt über die Herzlichkeit, Freundlichkeit und Großzügigkeit der Deutschen.

„Wenn wir uns vorstellen, zeigen wir als erstes unsere eigene neue Identität – die von Geflüchteten.“

Psychologin Olena Ilina
Psychologin Yana LukyanyukFoto: privat

Wie haben sich die Bedürfnisse der Frauen verändert, seitdem die Gruppen begonnen haben?

Ilina: Die ersten Gruppen haben im Frühherbst 2022 angefangen. Damals war die Stimmung aufgeladen, zum Beispiel, was das Thema der russischen Sprache in der Kommunikation anging. Die Frauen haben zum Beispiel häufig gesagt: „Ich lehne alles Russische ab.“ Auch darüber, wie es den Frauen in Deutschland geht und ob sie bleiben oder zurückgehen wollen, waren die Teilnehmerinnen gespalten. Es ging auch um die Eingewöhnung in die neue Umgebung und Probleme des täglichen Lebens. Zu dieser Zeit hat sich die Ukraine auf einen harten Winter vorbereitet – und die Frauen haben sich mit ihr vorbereitet.

Die zweite Sitzungsrunde hat pünktlich zum neuen Jahr geendet. Diese Zeit ist eigentlich eine der Bestandsaufnahme und des Planens. Deshalb hat sie sich für die Frauen sehr schwer angefühlt und sie haben sich viele Gedanken gemacht wie: „Das Ergebnis des letzten Jahres ist ein zerbrochenes Leben. Und Pläne? Welche Pläne gibt es? Wir warten. Überleben.“

Als die dritte Runde der Gruppenberatung anfing, war der Jahrestag des Kriegsbeginns. Damals haben die Frauen viel über das Warten auf den Frühling, den Sieg, Frieden und die Heimkehr gesprochen.

Und die vierte Gruppe fand im Frühjahr diesen Jahres statt. Sie war von Sehnsucht und Depression geprägt. Das schmerzlichste Thema war die Rückkehr in die Heimat: Ein Teil hatte bereits die Koffer gepackt, anderen ist die Entscheidung schwergefallen und wieder andere hatten keinen Ort, an den sie hätten gehen können. Im Frühjahr dann haben alle erwartet, dass sich die Lage an der Front verbessern würde. Aber das ist bisher nicht geschehen – und das Warten ist anstrengend.

Psychologin Nelya DusheikoFoto: privat

Sind die Frauen bereit, Ihre Erfahrungen mitzuteilen? Oder ziehen sie sich zurück?

Nelya Dusheiko: Die meisten Frauen haben keine Erfahrung mit der Teilnahme an solchen Gruppen und mit psychologischer Unterstützung. Normalerweise gibt es in jeder Gruppe ein oder zwei Frauen, die sich von den ersten Treffen an leicht öffnen. Die meisten Frauen öffnen sich allmählich und fühlen sich dann erleichtert. In fast jeder Gruppe gab es auch wenige Frauen, die schweigsamer waren. Aber sie haben trotzdem an den Sitzungen teilgenommen. Sie schienen durch die Geschichten der anderen etwas miterleben zu können. Sie haben oft geweint.

Wie wichtig ist es für die Unterstützung der Frauen, dass Sie, die Leiterinnen, sich in der gleichen Situation befinden?

Ilina: Das spielt eine entscheidende Rolle dabei, dass sich die Frauen für diese Gruppen entscheiden. Wir können die psychologische Barriere des „Ihr versteht nicht, wie schlecht es mir geht“ umgehen. Und es gibt den Frauen Hoffnung, dass ihre Belastungen bewältigt werden können. Denn wir, die Gruppenleiterinnen, werden von den Teilnehmerinnen von vornherein als Personen wahrgenommen, an die sie sich anlehnen können und als Menschen, „die damit umgehen können“. Wichtig ist auch, dass wir die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Mentalität haben.

Was macht es mit Ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, die Frauen psychologisch zu begleiten?

Dusheiko: Wir sind Frauen, wie die Gruppenteilnehmerinnen. Wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen, berührt das auch unsere Gefühle. Wir können nicht ruhig bleiben. Wir erleben sie mit ihnen, es ist die Realität. Diese Gruppen sind eine Ansammlung verschiedener Emotionen: Angst, Unruhe, Trauer und Sehnsucht. Aber es ist sehr wichtig, dass wir in der Gruppe die Rolle der Leitenden behalten.

„Diese Gruppen sind eine Ansammlung verschiedener Emotionen: Angst, Unruhe, Trauer und Sehnsucht.“

Psychologin Nelya Dusheiko

Was sollten die Frauen mitnehmen, wenn die Beratung beendet ist?

Lukyanyuk: Trotz der Intensität und Fülle schwieriger Geschichten und Erfahrungen können die Frauen Veränderungen bei den Teilnehmerinnen und in ihren eigenen Seelen beobachten. Für viele der Frauen ist es wichtig, zu erfahren, dass die Bandbreite an Gefühlen und Erfahrungen normal ist und dass es wichtig ist, in einer sicheren Umgebung darüber zu sprechen. Nach Abschluss des Kurses bilden die Frauen häufig eigene Gruppen, um sich gegenseitig zu unterstützen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass Unterstützung und Verständnis weiterhelfen.

Die Frauen in den Beratungsgruppen erleben auch, dass ihre Gefühle nicht abgewertet werden und dass ihre Emotionen und Geschichten die Welt anderer Personen nicht zerstören. Vielleicht ist ein Gefühl der Verbundenheit und dass sie nicht allein sind, das Wichtigste, das die Frauen mitnehmen können.


Über die Online-Beratung für Frauen

Ab Frühherbst 2022 gab es jeweils zwei Online-Gruppen mit jeweils acht zweistündigen Sitzungen in der Gruppe unter Leitung von je zwei ukrainischen Psychologinnen. Bisher gab es vier Durchgänge.

Das Projekt wurde aus Mitteln eines EU-Projekts zur Digitalisierung psychologischer Beratung, über den Ukraine-Fonds der Landeskirche und die Wüstenrot-Stiftung finanziert.

Die Psychologinnen haben von der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen der württembergischen Landeskirche regelmäßig online Supervision mit Unterstützung einer Dolmetscherin erhalten. Sie waren auf Basis von Honorarverträgen angestellt, um das komplexe Anstellungsrecht im Falle ausländischer Abschlüsse zu umgehen.

Hinweis: Die Psychologinnen haben die Fragen per E-Mail auf Ukrainisch in Zusammenarbeit mit ihrer Supervisorin an der Landesstelle, Dr. Esther Stroe-Kunold, beantwortet.




Schon gewusst?

Grafik: elk-wue.de

Hinweis für Kirchengemeinden

Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt@elk-wue.de nachzufragen, ob die Nutzungsrechte für den jeweiligen Zweck vorliegen.

Mehr News

  • Datum: 29.04.2024

    Video: „Gottesdienste sind fast wie Urlaub“

    Was macht an dem Beruf der Mesnerin besonders Spaß? Welche Herausforderungen bringt er mit sich, und warum fühlt er sich manchmal wie Urlaub an? Rundfunkpfarrerin Barbara Wurz hat bei SWR1 Begegnungen Gabi Sauer, die Mesnerin der evangelischen Veitskirche in Nehren, zu Gast.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    Zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Martin Rößler

    „Wir gratulieren Martin Rößler und wünschen ihm Gottes Segen. Einen passenderen Sonntag als diesen gibt es für Martin Rößler nicht: Sonntag Kantate, der das geistliche Singen in den Mittelpunkt stellt.“ Landesbischof Gohl gratuliert Prof. Dr. Martin Rößler zum 90. Geburtstag.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    „Das Gesangbuch ist ein Lebensbuch“

    „Singen ist Lebenshilfe. Das Gesangbuch ist mehr als eine Sammlung von Liedern für wechselnde Jahreszeiten und sonstige Anlässe. Das Gesangbuch ist ein Lebensbuch.“ Das sagt Landesbischof Gohl in seiner Predigt aus Anlass des 500-jährigen Jubiläums des evangelischen Gesangbuchs.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    „Wo wir der Hoffnung Stimme geben, wächst die Zuversicht“

    „Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt?!“ war das Motto des Herzschlaggottesdienstes in Nellmersbach, in dem Landesbischof Gohl am 21. April gepredigt hat. Hier finden Sie die Predigt zu einem Vers aus Psalm 18: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“.

    Mehr erfahren
  • Datum: 22.04.2024

    Innovationstag: Jetzt anmelden!

    Frische Ideen fürs Gemeindeleben: Unter dem Motto „#gemeindebegeistert – Kirche lebt, wo dein Herz schlägt“ veranstaltet die Landeskirche am 4. Mai einen großen Innovationstag. In Projektpräsentationen und Workshops gibt’s Austausch und Tipps. Jetzt anmelden

    Mehr erfahren
  • Datum: 22.04.2024

    KI in der Gemeindearbeit einsetzen

    Was ist Künstliche Intelligenz und was ist damit anzufangen? Eignet sich KI auch für die Gemeindearbeit und wo konkret kann sie dort zielgerichtet angewendet werden? Mit diesen Fragen befasst sich am 16. Mai ein Online-Seminar des Evangelischen Medienhauses.

    Mehr erfahren
  • Datum: 19.04.2024

    „Konfirmanden ist Glaube wichtiger als Geschenke“

    Frontalunterricht gibt es kaum noch im Konfi-Unterricht, sagt Prof. Dr. Wolfgang Ilg von der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg im Interview. Die Konfi-Arbeit sei nach wie vor das Angebot mit der größten Reichweite in der Evangelischen Kirche.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    „Kirche mit Kindern“ ist einfach lebendig

    Vom Kindergottesdienst zu einer Kirche für die ganze Familie: Lebendiger und spannender Gottesdienst mit neuen Herausforderungen. Wir haben Sabine Foth gefragt, wie sich die Kirche mit Kindern zu einer Familienkirche gewandelt hat und was ihr an der Arbeit besonders gefällt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    Video: Multitalent mit Down-Syndrom

    Tamara Röske hat viele Talente: Schauspielern, Modeln und Leichtathletik – trotz Handicap. Die 28-Jährige hat das Down-Syndrom. Wie bringt sie alles unter einen Hut? Darüber spricht sie zusammen mit ihrer Mutter Antje mit „Alpha & Omega“-Moderatorin Heidrun Lieb.

    Mehr erfahren
  • Datum: 17.04.2024

    „Der Segen Gottes gilt uns allen“

    Mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche Mariaberg bei Gammertingen hat am 13. April die ökumenische Woche für das Leben begonnen. Sie stellt unter dem Motto die Lebenswirklichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener mit Behinderungen in den Mittelpunkt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Segen, Mut & Traubenzucker

    In diesen Wochen stehen an vielen Schulen Abschlussprüfungen an - für Schülerinnen und Schüler eine stressige Zeit. Die Ev. Jugendkirche Stuttgart macht mit einem speziellen PrüfungsSegen Mut und stellt auch anderen Gemeinden Materialien zur Verfügung.

    Mehr erfahren
  • Datum: 16.04.2024

    Digitaler Notfallkoffer für die Seele

    Hilfe in persönlichen Krisenmomenten bietet die KrisenKompass-App der Telefonseelsorge fürs Handy und Tablet. Sie bietet Unterstützung, um schnell wieder auf positive Gedanken zu kommen oder bei Bedarf rasch professionelle Hilfe finden zu können.

    Mehr erfahren
Mehr laden