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„Kirche der Zukunft ist für mich diese Hoffnungsgemeinschaft“

Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl zum Reformationstag 2022

In seiner Predigt am Reformationstag um 18:00 Uhr in der Stuttgarter Stiftskirche befasst sich Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl mit dem Thema Angst und Hoffnung. Hier finden Sie den Volltext der Predigt. Spontane Änderungen sind möglich, für Medienzwecke gilt das gesprochene Wort.

Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl
Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Stuttgarter Stiftskirche.Bild: Thomas Rathay

Der Predigttext steht in Psalm 46,2-4:

Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, ein bewährter Helfer in Zeiten der Not. Darum fürchten wir uns nicht, selbst wenn die Erde erbebt, die Berge wanken und in den Tiefen des Meeres versinken. Auch dann nicht, wenn die Wogen tosen und schäumen und die Berge von ihrem Wüten erschüttert werden.


Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

für Martin Luther waren die Psalmen zentrale Lebensbegleiter. „Unser menschliches Herz“, schreibt Luther in seiner Vorrede zum Psalter 1528:

„Unser menschliches Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meere, welches die Sturmwinde von allen vier Himmelsrichtungen hin und her treiben. Von hierher stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unglück; von dorther fährt Gram und Traurigkeit über gegenwärtiges Übel; (…). Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und es von Grund ausschütten. (…) Was ist aber das meiste im Psalter anderes als solch ernstliches Reden in allerlei solchen Sturmwinden? (…) Im Psalter siehst du allen Heiligen ins Herz.“

Ja, auch heute bringen Sturmwinde unser Herz auf und treiben es wie ein kleines Schifflein auf dem tosenden Meer hin und her. Und, ja: die Psalmen sind ein ernstliches Reden. Ein Reden mit Gott. 

In diesen alten, sturmerprobten Worten finden wir uns mit unseren Erfahrungen wieder. Diese Worte sprechen zu uns und wir sprechen mit ihnen zu Gott, auch in Situationen, in denen wir keine eigenen Worte mehr finden können. Die Psalmen, das Gebetbuch Israels, sind tief in die Geschichte des Alten Testaments eingewoben und waren von Anfang an ein Schatz der christlichen Gemeinde. Und in der Tradition der reformatorischen Kirchen nehmen die Psalmen eine besondere Stellung ein. Die Reformatoren wollten – anders als in der katholischen Messe üblich – die Gemeinde der Gläubigen während des Gottesdienstes singen lassen. Dazu griffen sie besonders auf die biblischen Psalmen zurück. 

Deshalb will ich heute am Reformationstag über einen Psalm nachdenken. Martin Luther hat aus ihm ein Lied gemacht. Wir haben es eben gesungen: „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Die Melodie hat zum Erfolg des Liedes beigetragen. Sie verleiht dem Lied etwas fanfarenhaftes. Luthers Lied atmet den Geist seiner Zeit: Es ist die Zeit der Abgrenzung, des Protestes. Der Kaiser hatte die reformatorische Bewegung verboten. Gegen dieses Verbot protestierten 1529 in Württemberg u.a. Heilbronn, Reutlingen, Isny und Ulm. 

Im Gesangbuch kann man zwischen zwei Melodien wählen. Die frühere, von Luther ursprünglich so komponiert tönt anders. Rhythmisch schwieriger. Fast stotternd. Das heißt „Ein feste Burg ist unser Gott“ und mit ihm Psalm 46 ist in Wahrheit ein zartes Lied gegen die Angst. Und damit ein Lied der Stunde. 

„Angst essen Seele auf“ – heißt ein Film aus den 70er Jahren von Rainer Werner Fassbinder. „Angst essen Seele auf“ ist der Grundton dieser Tage: Russland, Atomangst, Energiekrise, Inflation, Armut, Klimawandel. So viel Angst wie jetzt war selten. Kann uns Psalm 46 gegen diese Angst helfen?

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Mit dem Bekenntnis zu Gott beginnt dieser Psalm. Der Blick weg, von dem was uns in Schrecken versetzt, hin auf unsere Hilfe. Für Martin Luther lag darin der Trost. In zahllosen Stunden hatte der Augustinermönch aus dem Kloster dieses Psalmenwort beklopft und gewendet. Zuversicht und Stärke standen lange unverbunden zu Luthers Lebenserfahrungen. Aber dann entdeckte Luther, was hinter den Buchstaben von Gesetz und Gericht stand: Gottes Gnade. 

Was wir uns heute kaum mehr vorstellen können, geschah: Durch diese Entdeckung wurde Luther zum Staatsfeind Nr.1: Reichsacht. Vogelfrei. 
Evangelisch sein hieß nun, nur an Christus und sein Heil zu glauben. Kein Kaiser war dafür mehr nötig, kein Papst und auch keine guten Werke. 
Für Luther eine Befreiung, für die Altgläubigen eine Katastrophe. 

In dieser Todesgefahr verbarg sich Luther auf der Wartburg. Dort übersetzte er das Neue Testament. Und plötzlich begannen die Mauern um ihn herum zu sprechen: Ein feste Burg ist unser Gott. Diese Worte fand er in Psalm 46. Luther betet die Psalmworte. Sein Bekenntnis lautet: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. 

In seiner lateinischen Psalmenausgabe fand er dafür das Wort refugium - Rückzugsraum. Wenn die Feinde toben, ist Gott der Ort, an den ich mich zurückziehen kann. Dieser Rückzugsraum ist für meine Feindin, die Angst, uneinnehmbar wie eine Burg.

Wenn wir so auf Psalm 46 schauen, dann wird uns bewusst, dass in diesem Rückzugsraum, im Gebet, nicht die Angst das erste Wort hat, sondern das Bekenntnis zu Gott. Aber wir hören und lesen auch, dass der Beter sich nicht gegen die Angst abschottet, sondern ihr Raum gibt. Und so geht der Beginn unseres Psalms: 

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. 

Für Luther und seine Zeitgenossen war die Welt voller Nöte. Die Kindersterblichkeit war immens und ihre Mütter starben oft im Kindbett. Pest und andere Epidemien suchten die Menschen heim. Kriege und Hungersnöte taten ihr übriges. Noch vor wenigen Jahren hätten wir auf diese Nöte mit Gelassenheit geblickt.  

Das ist anders geworden. Corona, der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, die Sorge vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen. Die Welt droht aus den Fugen zu geraten und das geschieht nicht nur weit, weit weg, sondern mitten bei uns. 

Im Blick auf viele Gespräche und Begegnungen der letzten Monate weiß ich, wie weit diese Ängste verbreitet sind. Hilft der Rat, sich auf Gott zu berufen? Zu ihm zu beten und ihn zu bitten, diese Ängste von mir wegzunehmen. 

Dass das gut und richtig ist, davon bin ich zutiefst überzeugt. Aber was, wenn meine Angst so groß ist, dass sie sogar damit rechnet, dass Gott mir nicht helfen kann? Was, wenn mir das Gebet im Halse stecken bleibt vor lauter Übel und Unglück? Was, wenn Not eben nicht beten lehrt?

Die Psalmen reden die Welt nicht schön. 
Sie kennen das menschliche Leben und nehmen die Angst ernst.  

Die Frage der Angst hat aber auch eine gesellschaftliche Dimension. 
Wenn vielen Menschen die Angst näher ist als Gott, dann wird irgendwann die Angst zur Grundmelodie unserer Gesellschaft.

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat dieses Phänomen in einem lesenswerten Buch untersucht. Es trägt den Titel: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Nussbaum sammelt Beobachtungen unserer Zeit, die Grund zur Sorge sein können: Ausgrenzung von Minderheiten, Zerstörung aus Wut, Leugnung von Fakten, Hass, der zur Gewalt führt. All dies höhlt für Nussbaum eine demokratische Gesellschaft nach und nach aus. Für ein faires, demokratisches Miteinander, so Nussbaum, braucht es stattdessen dies: Liebe zum Guten, Hoffnung auf die Zukunft, Entschlossenheit, die zerstörerischen Kräfte des Hasses, des Ekels und des Zorns zu bekämpfen – die allesamt durch die Angst genährt werden. 

Nussbaum sieht in der Angst einen Grundstoff des Menschseins. Angst, sagt sie, ist das erste Gefühl, das wir im Leben kennenlernen. Angst vor Hunger, Angst vor Liebesentzug, Angst vor dem Tod.  Und die Angst bleibt ein Leben lang im Untergrund unserer Gefühle präsent. Ganz los werden wir sie nie. 
Ohne Angst geht es nie, aber mit ihr eben auch nicht. Für Nussbaum sind Gruppen, die sich ihrer Ängste nicht stellen, gefährlich. Sie werden zornig, sie empfinden Ekel und werten andere ab. Sie üben Macht und Kontrolle über andere aus – alles, um der eigenen Angst nicht zu erliegen. 

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. 

Bislang hatten wir uns mit unserer Angst alleine vor Gott eingerichtet. Aber die Wirklichkeit des Psalmbeters sieht ganz anders aus: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke. Es sind die Nöte, die uns getroffen haben. Und wir alle sind es, die den Weg aus der Angst finden.

Der heutige Tag ruft uns ins Gedächtnis, dass dieses gemeinsame Beten, dieses Pfeifen im Wald der Angst, der Beginn von Kirche ist. Wie damals, als die Jünger am ersten Ostertag zusammen hinter verschlossenen Türen saßen, bibbernd und starr vor Zukunftsangst und Jesus mitten unter sie trat, sie stärkte und ihnen die Sorge vor der Zukunft nahm. So paradox es klingen mag: Wenn wir so beten und zweifeln, so sind wir gerade so Teil dieser Hoffnungsgemeinschaft, die Kirche von damals bis heute ist. 

Kirche der Zukunft ist für mich diese Hoffnungsgemeinschaft: Gemeinsam Hoffen gegen die Angst. Gemeinsam beten für Frieden und das Ende der Gewalt. Gemeinsam auf Gottes Liebe in einer lieblosen Welt vertrauen. Und als Hoffnungsgemeinschaft dann auch durch konkretes Handeln in diese Welt und Gesellschaft hineinwirken. Wir müssen als Kirche das Rad nicht neu erfinden. Erinnert euch an den Auszug Israels aus Ägypten. Das Schilfmeer teilt sich, als der erste den Fuß ins Wasser setzt. Erinnert euch an Gottes Ruf in den Engeln an Weihnachten „Fürchtet euch nicht!“

Die reformatorische Bewegung hat vor 500 Jahren vieles in Gang gebracht, was unser Land bis heute prägt. Die liebgewordenen Choräle, die wir auch heute singen, der Ernst unserer Bibelauslegung, die Nüchternheit unserer Kirchenräume. 

Im Kern aber war die Reformation eine Protestbewegung. Darin ist sie uns heute wieder besonders nahe. Sie protestierte damals wie heute gegen die Macht der Angst. 

Und so könnte doch die Kirche der Zukunft sein: Die Ängste dieser Welt kennen, ihnen mit einem Lied auf den Lippen begegnen, beten, gemeinsam hoffen, gemeinsam anpacken und dann denen, die es gerade besonders gut gebrauchen können zusprechen: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht. 
Amen.

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