In einem großen Interview mit dem Evangelischen Pressedienst epd hat Landesbischof Ernst-Wilhelm Stellung zu einer Vielzahl von Themen genommen, die ihn, die Landeskirche und die Gesellschaft zurzeit bewegen, zum Beispiel die innerkirchlichen Sparmaßnahmen, den Nah-Ost-Konflikt, die Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen, die Integration Geflüchteter und ökumenische Kooperationen.
epd: Herr Landesbischof, wir leben in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft. Sie beziehen zu politischen Themen wie der Migration oder der AfD klar Stellung. Laufen Sie Gefahr, das Kirchenvolk zu spalten, wenn Sie als Bischof so eindeutige Meinungen vertreten?
Landesbischof Gohl: Diese Gefahr sehe ich nicht. Mir ist ganz wichtig, vom christlichen Menschenbild auszugehen. Wenn ich als Christ glaube, dass jeder Mensch Gottes Geschöpf und Ebenbild ist, dann kann mir sein Schicksal nicht egal sein. Daraus folgen für mich drei Dinge. Erstens: Empathie zu empfinden für Menschen in Not und nicht zu sagen „Was gehen mich die anderen an?“. Zweitens: die Demut zu wissen, dass meine Meinung nicht die letzte Wahrheit ist. Ich bringe meine Meinung in die Diskussion ein, aber als Christ weiß ich, dass ich nicht der liebe Gott bin. Und drittens eine gewisse Gelassenheit, die ich aus dem Glauben schöpfe, dass mein Leben bei Gott getragen ist. Das hilft, gegen die allgemeine Aufgeregtheit einen anderen Akzent zu setzen. Deshalb melden wir uns zu Wort - nicht parteipolitisch, aber politisch im Sinne des früheren württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz, der sagte, Politik sei für ihn nichts anderes als praktisch angewandte Religion.
epd: Aber ein Bischofswort hat ein anderes Gewicht als eine private Meinungsäußerung...
Landesbischof Gohl: Dessen bin ich mir bewusst. Aber ich sehe schon meine Aufgabe darin, biblisch begründet Orientierung zu geben. Ich respektiere aber, wenn andere zu anderen Positionen kommen. In unserer evangelischen Tradition spielt die Gewissensprüfung eine zentrale Rolle. Wenn wir diesen Respekt vor Gewissensentscheidungen in die gesellschaftlichen Debatten einbringen, ist viel gewonnen.
epd: Viele Menschen haben das Gefühl, es fehle an Empathie für die Sorgen der einheimischen Bevölkerung - Stichworte Kriminalität oder Einwanderung in die Sozialsysteme. Sehen Sie diese Probleme auch?
Landesbischof Gohl: Ja, natürlich. Wir sehen, dass die Kommunen an ihre Grenzen kommen. Lehrerinnen in Innenstädten erzählen mir, dass nur noch eine Handvoll Kinder muttersprachlich deutsch sprechen. Das sind riesige Herausforderungen, die man nicht kleinreden darf. Wir werden sie aber nur lösen, wenn wir uns ihnen auf eine gute Weise stellen. Das heißt, dass es nicht sein darf, dass man sofort in eine rechte oder linke Ecke gestellt wird, sobald man etwas Kritisches sagt. Die Populisten befeuern die Illusion, es gäbe einfache Lösungen, während die andere Seite die Probleme manchmal nicht ernst genug nimmt. Wir müssen dahin kommen, unterschiedliche Interessen fair abzuwägen. Und bei der Migration bin ich überzeugt: Das ist ein Thema, das sich nur europäisch lösen lässt.
epd: Ein anderes hochemotionales Thema ist der Nahost-Konflikt. Sie haben eine Stellungnahme des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) scharf kritisiert, in der Israel „Apartheid“ vorgeworfen wird. Warum?
Landesbischof Gohl: Mir ist wichtig, dass man unterscheidet zwischen der Politik der Regierung Netanjahu, die ich sehr kritisch sehe, und Israel an sich. Es macht mich nachdenklich, dass plötzlich alle Jüdinnen und Juden für die Politik von Benjamin Netanjahu und zwei rechtsextremen Ministern verantwortlich gemacht werden. Der 7. Oktober 2023 war eine Katastrophe, ein Angriff auf die Existenz Israels mit mehr als 1.200 Toten. Wenn der Plan der Hamas aufgegangen wäre, gäbe es Israel in dieser Form wahrscheinlich nicht mehr. Dass der ÖRK dann in seiner Stellungnahme trotzdem den Anlass, diesen Terrorakt, nicht einmal erwähnt und keinen Funken Empathie erkennen lässt, ist für mich schwer erträglich. Man kann nicht sagen: „Ja, das Leid der Israelis ist schlimm, aber…“. Das Leid in Israel, die Familien, die um die Geiseln bangen, ist furchtbar. Und das Leid im Gazastreifen ist furchtbar. Empathie ist nicht teilbar.
epd: In Deutschland wird nach der verschobenen Wahl einer Verfassungsrichterin wieder heftig über den Abtreibungsparagrafen 218 gestritten. Ab wann gilt für Sie die Menschenwürde für einen Embryo?
Landesbischof Gohl: Von Anfang an. Und zwar bis zum Schluss. Wenn wir die Menschenwürde am Lebensanfang einschränken, dann droht diese Einschränkung auch am Lebensende.
epd: Sie halten also den jetzigen Paragrafen 218 für einen guten Kompromiss?
Landesbischof Gohl: Ich halte diese Lösung für angemessen, weil sie einem unauflösbaren Dilemma zwischen zwei Grundrechten Rechnung trägt: dem Recht des Ungeborenen auf Leben und dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Diese Konstruktion, dass etwas rechtswidrig, aber unter bestimmten Umständen nicht strafbewehrt ist, bildet genau diesen fundamentalen Konflikt ab und löst ihn nicht zu einer Seite hin auf. Wir sehen auch, dass der Paragraf 218 ein hohes Maß an Rechtsfrieden in der Gesellschaft geschaffen hat. Die derzeitige polarisierte Debatte zeigt, welch hohes Gut dieser Rechtsfrieden ist.
epd: Die Landeskirche steht vor großen finanziellen Herausforderungen, gleichzeitig wurde gerade ein neues Dienstgebäude in Stuttgart bezogen, dessen Bau 63 Millionen Euro gekostet hat. Wie erklären Sie das einem kritischen Kirchensteuerzahler?
Landesbischof Gohl: Die 63 Millionen sind gut angelegt. Eine Sanierung des alten Dienstgebäudes hätte auch mindestens 45 Millionen gekostet. Jetzt können wir viel mehr Menschen zusammenführen und arbeiten nach modernsten Standards. Wir haben 450 Mitarbeiter und 363 Arbeitsplätze, das funktioniert nur mit Desk-Sharing. Durch diese Verdichtung konnten wir Außengebäude auflösen und sparen Mietkosten. Zudem sind wir energetisch auf dem neuesten Stand, was eine langfristig sinnvolle Investition ist. Es war also eine wirtschaftlich kluge Entscheidung, auch wenn sie politisch schwierig zu vermitteln ist in Zeiten, in denen Gemeindehäuser abgerissen werden.
epd: Das Kirchenparlament, die Landessynode, hat ein Sparpaket von jährlich über 100 Millionen Euro beschlossen. Wo wird man das konkret spüren?
Landesbischof Gohl: Wir haben uns bemüht, möglichst wenig im Dienst an Menschen, sondern eher in der Verwaltung und in den Strukturen zu sparen. Trotzdem gibt es harte Einschnitte. Wir mussten zum Beispiel die Stelle in der Blindenseelsorge aufgeben. Das hat zu Protesten geführt. Wir haben auch beschlossen, dass es das Bibelmuseum „Bibliorama“ in Stuttgart in seiner jetzigen Form nicht mehr geben wird. Auch da überlegen wir, wie wir Menschen auf andere Weise mit der Bibel vertraut machen können, etwa durch mobile Angebote oder Kooperationen.
epd: Eine umstrittene Sparmaßnahme war die Entscheidung der Synode, die Prälaturen Stuttgart und Ulm aufzulösen. Es bleiben nur noch die Prälaturen Heilbronn und Reutlingen übrig.
Landesbischof Gohl: Die Streichung der Prälatur Stuttgart war schon länger diskutiert. Überraschend beschloss die Synode die Streichung einer weiteren Prälatur und bat, von der Ausschreibung der Prälatenstelle in Ulm abzusehen, nachdem die jetzige Prälatin Gabriele Wulz in Ruhestand gegangen ist. Die Wahl der zukünftigen Prälaturstädte ist damit allerdings noch nicht entschieden. Die Folgen dieser Streichung einer weiteren Prälatur wurden aus meiner Sicht nicht ausreichend bedacht. Prälatinnen und Prälaten leisten eine Arbeit, die viele nicht sehen. Wenn Pfarrstellen neu besetzt werden, sprechen die Prälaten mit den Gemeinden über die Wiederbesetzung. Das sind oft kleine Gemeindeberatungen - zumal in unseren Transformationszeiten. Da müssen Gemeinden mit unterschiedlichen Profilen zusammenwachsen. Die Entscheidung der Synode gilt. Das respektiere ich. Aber wir brauchen eine gute Übergangslösung. Denn die Gemeinden müssen weiterhin gut begleitet werden, und zwei Prälaten für ganz Württemberg schaffen diese Fülle an Aufgaben derzeit nicht allein.
epd: Ein weiteres Thema, das die Kirche spaltet, ist die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare. Eigentlich sollte das in der Sommersynode behandelt werden. Warum wurde es vertagt?
Landesbischof Gohl: Der Grund war schlicht, dass die Synodalen - die ihr Amt ehrenamtlich ausüben - durch die riesigen Sparmaßnahmen und die Haushaltsdebatte so stark eingebunden waren, dass keine Kraft und Zeit mehr blieb, dieses komplexe Thema angemessen zu bearbeiten. Es wäre nicht gut, jetzt in eine Abstimmung mit ungewissem Ausgang zu gehen - egal in welche Richtung. Es ist ein dickes Brett, das man bohren muss, um allen Interessen gerecht zu werden.
epd: Schauen wir auf die Ökumene. Um zu sparen, wäre da nicht mehr Zusammenarbeit mit der badischen Landeskirche oder der Diözese Rottenburg-Stuttgart denkbar?
Landesbischof Gohl: Absolut! Ich erlebe sowohl von der badischen Kirche als auch von der Diözese eine große Offenheit. Wir haben ja schon viele Kooperationen, etwa die ökumenische Telefonseelsorge oder Zusammenarbeit in Diakonie und Religionspädagogik. Auch die gemeinsame Nutzung von Gebäuden geschieht schon vielerorts. Unsere Aufgabe als Kirchenleitung ist es, solche Ideen zu fördern.
epd: Warum dann nicht gleich eine Fusion mit der badischen Landeskirche?
Landesbischof Gohl: (lacht) Darauf sage ich ganz einfach: Dann müssten wir über grundlegende Dinge wie Bekenntnisstand - wir sind lutherisch, die Badener sind uniert - oder über die Systeme zur Synodenwahl streiten. Das würde uns auf Jahre lahmlegen und unglaublich viel Kraft kosten, die wir für unseren eigentlichen Auftrag brauchen. Konzentrieren wir uns lieber auf die praktische Zusammenarbeit. Irgendwann in der Zukunft wird die Frage einer Fusion vielleicht viel leichter zu lösen sein.
epd: Sie verzichten als Landesbischof seit Kurzem auf einen eigenen Fahrer. Sie fahren meist selbst oder mit der Bahn. Ist das nicht sehr anstrengend?
Landesbischof Gohl: Im Zug kann ich gut arbeiten. Wenn man einen langen Tag hatte und dann noch zweieinhalb Stunden mit dem Auto zurückfahren muss, ist das natürlich anstrengend. Aber ich glaube, das sind auch kleine Zeichen und politische Signale. Es fällt finanziell nicht groß ins Gewicht, aber es ist eine Haltungsfrage. Ich habe einen Führerschein und kann selber fahren. Und wenn es wirklich mal eine fahrtechnisch schwierige oder sehr lange Reise gibt, kann ich immer noch auf Fahrer der Fahrbereitschaft zurückgreifen.
epd: Was ist Ihr Herzensanliegen für die Kirche in diesen Zeiten?
Landesbischof Gohl: Weniger wehleidig sein. Nicht die ganze Zeit den eigenen Puls fühlen, das tut meistens nicht gut. Sondern einfach im Vertrauen auf die Botschaft, die wir haben, und im Blick auf das Viele, was in unserer Kirche trotz aller Probleme gelingt, zuversichtlich unterwegs sein. Das ist mein Herzensanliegen.
Quelle: epd
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt
Was es mit der Kirchensteuer auf sich hat, wie sie bemessen wird und welche positiven Effekte die Kirchen mit der Kirchensteuer an vielen Stellen des gesellschaftlichen Lebens erzielen, erfahren Sie auf www.kirchensteuer-wirkt.de.