| Landeskirche

„Das Leid der Betroffenen wird anerkannt“

Unabhängige Kommission setzt Aufarbeitung sexualisierter Gewalt fort

Sexualisierte Gewalt wahrnehmen und überwinden ist schon seit vielen Jahren Thema in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Neben Präventionsmaßnahmen und Aufarbeitungsprojekten zahlt sie für das Leid, das Kinder und Jugendliche durch eigene Mitarbeitende oder in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werks Württemberg in Form von sexualisierter Gewalt erfahren haben, Anerkennungsleistungen. 2015 wurde dazu eine Unabhängige Kommission eingesetzt, die entsprechende Anträge prüft und über sie entscheidet. Die ursprünglich bis 30. Juni 2017 gesetzte Frist für die Antragstellung wurde nun aufgehoben. Darüber und über den Stand der Aufarbeitung hat Jens Schmitt mit Richter a. D. Wolfgang Vögele gesprochen. Vögele hat den Vorsitz der dreiköpfigen Unabhängigen Kommission.

Richter a. D. Wolfgang Vögele, Vorsitzender der Unabhängigen KommissionEMH/Jens Schmitt

Herr Vögele, Ende 2015 hat die Unabhängige Kommission ihre Arbeit begonnen. Wie viele Anträge haben Sie seither bearbeitet?
Insgesamt haben wir bis heute 57 Anträge bekommen, davon haben wir 45 bereits positiv beschieden. Von diesen waren 40 Anträge aus dem Bereich der Diakonie und fünf aus dem Bereich der Landeskirche. Sechs weitere Anträge bearbeiten wir  gerade. Die anderen sechs stammen aus dem Bereich der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal. Für deren Bearbeitung sind wir nicht zuständig. Die Landeskirche achtet die Selbständigkeit der Brüdergemeinde, hat aber bereits im November 2016 angeboten, dass sie auf Ersuchen der Brüdergemeinde bereit wäre, im Wege der Amtshilfe ihre Unabhängige Kommission zu beauftragen, auch für die Brüdergemeinde das Anerkennungsverfahren durchzuführen.

Wie läuft so eine Antragsprüfung ab?
Die Anträge werden zuerst von Ursula Kress von Seiten der Landeskirche und Ingrid Scholz vom Diakonischen Werk Württemberg vorgeprüft. Sie schauen nach, ob die Antragsteller Vorgänge in einer Einrichtung in der Landeskirche oder einer Mitgliedseinrichtung des Diakonischen Werkes Württemberg, die der Landeskirche zugeordnet ist, geltend machen. Dazu werden die Formalien geprüft, also ob die Anträge unterschrieben sind und ob eine Kopie des Ausweises dabei ist. Im Anschluss bekommt die Unabhängige Kommission diese Anträge. Wir, das sind Marie-Louise Stöger, die Geschäftsführerin und Leiterin der Fachberatungsstelle Wildwasser Stuttgart e.V., Hans Fischer, ehemaliger Diakon und Leiter von Jugendhilfeeinrichtungen der Diakonie, und ich, ehemaliger Vorsitzender Richter beim Landgericht Stuttgart. In einem ersten Schritt prüft jeder unabhängig vom anderen den Antrag selbst, und bei der nächsten Kommissionssitzung beraten wir dann gemeinsam, ob die Anerkennungsleistung zu gewähren ist.

Nach welchen Kriterien wird entschieden, ob ein Antrag bewillig wird?
Wir alle sind aufgrund langjähriger Tätigkeiten in unseren Arbeitsbereichen mit dem Thema sexuelle Gewalt bestens vertraut und erfahren, mit solchen Fällen umzugehen. Wir prüfen, ob wir diese Anträge für begründet halten, also ob wir hinreichend sicher sind, dass die Antragsteller damals im Verantwortungsbereich der Landeskirche und der zugeordneten Diakonieeinrichtungen tatsächlich Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Bei den allermeisten war jedem Kommissionsmitglied für sich schon klar, dass die Anträge genehmigt werden können. Einige wenige Anträge waren etwas karg. Da stehen dann so Sätze drin wie "…und dann bin ich sexuell missbraucht worden." Diese plakative Beschreibung reicht nicht aus. Da fragen wir dann in persönlichen oder telefonischen Gesprächen nach, was geschehen ist. Aber auch da wurde schon nach kurzer Zeit deutlich: Ja, da ist etwas passiert.



Als Opfer ist es sicher nicht einfach nach all den Jahren nach vorne zu treten und sich bei Ihnen zu melden.
Wir haben verschiedene Anträge gehabt, in denen in krakeliger Schrift stand "Ich kann jetzt nicht mehr" oder "Nein, nein, es geht nicht mehr". Das berichten uns auch immer wieder Frau Kress und Frau Scholz, die beim Ausfüllen der Anträge auf Wunsch Hilfe leisten. Wir wissen, welch ungeheure Leistung der Antragsteller es ist, diesen Schritt zu gehen, diese Anträge auszufüllen und sich diesen emotionalen Erinnerungen wieder zu stellen. Aber wir wissen auch, dass das Anerkennungsverfahren ein Stück weit helfen kann. Die Betroffenen beschäftigen sich nochmals mit dem Geschehenen und erleben, möglicherweise zum ersten Mal, dass die Landeskirche sagt: "Wir bekennen uns zu unserer Verantwortung. In unserem Verantwortungsbereich ist Schlimmes geschehen."  Wenn die Betroffenen das merken, dann ist das eine neue Erfahrung.

Wie meinen Sie das?
Wir haben wiederholt die Rückmeldung bekommen, dass Opfer nach positiver Antragserkennung sehr überrascht sind. Warum? Die Betroffenen sind von den Tätern darauf konditioniert, dass sie selbst schuld sind, dass ihnen ohnehin niemand glaubt und sie nichts wert sind. Und bei uns ist das auf einmal anders. Weil sie von uns nicht verhört wurden. Weil sie sich nicht rechtfertigen mussten. Weil sie uns nichts beweisen mussten. Weil die Kommission Ihnen glaubte. Weil wir nun wissen, wie schwer vielen Betroffenen die Antragstellung fällt, haben wir dem Landesbischof auch vorgeschlagen, die bis zum 30. Juni laufende Frist erheblich zu verlängern oder ganz aufzuheben. Diese Anregung wurde aufgenommen, die Frist ist mittlerweile vollständig aufgehoben. Das ist sehr erfreulich.

Was erhoffen Sie sich von der Entfristung?
Die Entfristung soll ein Signal an die Betroffenen sein und Mut machen, einen Antrag zu stellen. Es geht hier ja weder um Schmerzensgeld noch um Schadenwiedergutmachung. Diese juristischen Möglichkeiten wären auch nicht mehr realisierbar, weil die Taten verjährt sind. Es geht vielmehr darum, dass die Landeskirche ohne Wenn und Aber sagt, "Jawohl, in unseren Einrichtungen ist das passiert." Und genau das ist das Wichtige. Es geht darum, dass das Leid der Betroffenen anerkannt wird. Auch wenn 20, 30 oder 40 Jahre vergangenen sind, ist dieser Schritt wichtig.

Wenn ein Antrag genehmigt wird, wie geht es dann weiter?
Dann wird der Anerkennungsbetrag von 5000 € unverzüglich ausbezahlt. Aber es geht hier nicht nur um die Entscheidung über einen Antrag. Wird ein Antrag von uns positiv beschieden, melden wir uns bei der oder dem Betroffenen mit einem Brief, in dem wir auch ein Gespräch anbieten. Das ist für uns ganz wichtig. Die Betroffenen sollen wissen, dass sie Gehör finden, entweder unmittelbar in einer Kommissionssitzung, wenn sie dazu bereit sind, oder zumindest in einem ausführlichen, geplanten Telefongespräch. Wir hören zu. Manchmal fragen wir auch nach. Wir wollen wissen, was die Menschen auf dem Herzen haben, was sie uns oder der Landeskirche sagen möchten. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Frau Kress, die Beauftragte für Chancengleichheit und Ansprechpartnerin für sexualisierte Gewalt im Oberkirchenrat, die Betroffenen an Beratungsstellen oder Therapieeinrichtungen weiter vermitteln kann, sollten sie dies wünschen und weitere Hilfe benötigen.


Merkblatt Anerkennungsleistungen
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Info: 213 KB | PDF
05.03.2024

Merkblatt Anerkennungsleistungen
Allgemeine Informationen, Hinweise zum Verfahren sowie Ansprechpartner/innen.

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Info: 208 KB | PDF
30.06.2021

Antrag Anerkennungsleistungen
Antrag auf Leistungen in Anerkennung des Leids, das Betroffenen sexualisierter Gewalt in Körperschaften und Einrichtungen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes Württemberg, die der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zugeordnet sind, zugefügt wurde.


Wie kam es zu den 5.000 Euro als Pauschalleistung?
Die Evangelische Landeskirche in Württemberg hat diese Summe als Anerkennungsleistung festgesetzt. Anfangs waren wir damit nicht zufrieden, denn es gibt Fälle, in denen relativ wenig passiert ist und Fälle, in denen unendlich viel passiert ist. Von außen betrachtet sieht das merkwürdig aus, alle mit der gleichen Summe „abzuspeisen“. Nach einem Jahr Tätigkeit haben wir dies in der Kommission aber beraten und daraufhin vorgeschlagen, es aus folgenden Gründen dabei zu belassen. Erstens: Eine Pauschale hat nie den Anspruch allen gerecht zu werden, es ist immer eine Kompromisslösung. Zweitens: Leid kann man nicht messen. Wer will denn sagen, ob die Anerkennung des geschehenen Leids 2.000, 5.000 oder 10.000 Euro wert ist? Und drittens: Die Kirche ist Vertreterin der Täterseite. Schon deshalb steht es ihr nicht zu, das Leid der Betroffenen zu bemessen. Schließlich glauben wir feststellen zu können, dass es den Antragstellern oft nicht in erster Linie um das Geld geht. Sie verstehen die Gewährung der 5.000 Euro als symbolische Geste. Wichtiger ist ihnen, die Übernahme der Verantwortung für das Geschehene durch die Landeskirche und die Anerkennung ihres Leids.

Den Vorsitz einer solchen Kommission zu führen, ist sicher nicht leicht. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Als ich noch Vorsitzender Richter des Landgerichts war, waren etwa ein Drittel meiner Verhandlungen Jugendschutzsachen. Darauf muss man sich natürlich einlassen. In der Anfangszeit war das schwieriger, aber mit der Zeit bin ich da reingewachsen und habe gelernt, damit umzugehen. Als ich vor fünf Jahren in den Ruhestand gegangen bin, habe ich gemerkt, wie viel Anspannung von mir abgefallen ist. Da ist mir aufgefallen: Ich brauche das Leid der Opfer nicht mehr aushalten und muss auch den Tätern nicht mehr in die Augen schauen. Das fordert eine ungeheure Kraft. Auf der anderen Seite gab es natürlich auch positive Erfahrungen. Manches Opfer sagte nach seiner Vernehmung und nach dem Urteil, jetzt könne es mit der Sache abschließen, jetzt könne es endlich beginnen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Tätigkeit in der Kommission ist eine andere. Hier kann ich Betroffenen helfen, muss aber keine Verhandlung führen und keinen Spagat zwischen Tätern und Opfern machen, wie das vor Gericht der Fall war, um beiden Seiten gerecht zu werden. Als ich gefragt wurde, ob ich bereit sei, diese Aufgabe für die Landeskirche zu übernehmen, hatte ich großes Interesse und wusste, dass ich meine jahrelange Erfahrung als Richter hier gut einbringen kann. Diesen Schritt bereue ich bis heute nicht.

 

Stand 2024: Die Anerkennungsleistung beträgt inzwischen 20.000 Euro pauschal.


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