| Gesellschaft

Einblicke ins Judentum

Synagogenführung im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“

Eine kleine Gruppe wartet vor dem Eingang der Synagoge in der Stuttgarter Hospitalstraße. Vereinzelt tragen Männer und Jungen eine Kopfbedeckung: Hut, Baseballmütze oder auch Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung für männliche Juden. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat im Rahmen der "Woche der Brüderlichkeit" zum Synagogenbesuch eingeladen. Nadja Golitschek war mit dabei.

Rachel Dror erklärt den Besuchern das Judentum.EMH – Nadja Golitschek

Die Besucher zeigen am Eingang ihren Personalausweis, ein Mitarbeiter überprüft Rucksäcke und Taschen. „Es gab bereits Angriffe auf die Synagoge und das Mahnmal. Wir bekommen die dreckigsten Wörter auf den Anrufbeantworter gesprochen“, bedauert Rachel Dror (93), eine kleine und zierliche Frau, die durch die Synagoge führt. Vor Betreten des Saales gibt sie an die männlichen Besucher ohne Kopfbedeckung eine Kippa aus. Sie erinnert einen jüdischen Mann daran, dass „nicht er der Wichtigste ist, sondern Gott“, erklärt Rachel Dror. Lampen tauchen den großen Gebetsraum in ein warmes, gedämpftes Licht. Hier haben schon bis zur Zerstörung der Synagoge in der Reichpogromnacht am 9. November 1938 Menschen jüdischen Glaubens gebetet. Die neue Synagoge wurde 1952 auf dem Fundament der alten aufgebaut. Zwei Steintafeln in der Wand sind das Einzige, was von der alten, zerstörten Synagoge übrig geblieben ist.

Jude von Geburt an

Jude oder Jüdin zu sein habe nichts mit einer Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit zu tun. Rachel Dror stellt sich als „Deutsche jüdischen Glaubens“ vor – zur Verwunderung vieler, wie sie oft erlebt. „Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde“, wendet sich die 93-Jährige insbesondere an die anwesenden „Herren der Schöpfung.“ Gleichzeitig bedeute das Judentum mehr als die Religionszugehörigkeit, so Rachel Dror weiter. „Egal ob Atheist oder Konvertit: Jude bleibt Jude“, betont sie. Rachel Dror nutzt die Führung, um mit Vorurteilen und Halbwissen aufzuräumen: „Israelit und Jude ist das gleiche Wort. Das hat aber nichts mit den Einwohnern Israels zu tun. Da durch das Dritte Reich – und teilweise auch jetzt noch – das Wort ‚Jude‘ negativ belastet ist, nennen sich die Gemeinden heute israelitische Religionsgemeinschaften.“ Rachel Dror spricht offen und direkt: „Sie merken, ich nenne die Dinge beim Namen. Machen Sie es ebenso!“ Es gäbe keine falschen Fragen. „Ich komme aus Ostpreußen, wir sind ein offenes Volk“, schmunzelt sie. Nur politische und weitere Fragen zu ihrer Vergangenheit – ihre Eltern kamen in Auschwitz ums Leben – möchte sie in der Synagoge nicht beantworten.

Im Judentum gibt es 613 Gesetze: 365 Verbote und 248 Gebote

Ein Sechstklässler interessiert sich besonders für die Speisevorschriften, eines von insgesamt 613 Ge- und Verboten der Tora. Milch dürfe nicht zusammen mit Fleisch verzehrt oder gekocht werden, daher brauche man in jedem jüdischen Haushalt zwei Topfgeschirre, berichtet Rachel Dror. Das Schwein sei als Allesfresser kein reines Tier und daher nach jüdischem Verständnis nicht zum Verzehr geeignet. „Heute nennt man das Trennkost“, sagt die 93-Jährige. „Wir haben diese Vorschrift schon vor Tausenden Jahren bekommen.“ Die Gesetze sind für Rachel Dror maßgeblich für das Judentum. Jeder habe aber das Recht, diese für sich persönlich auszulegen. „Der Rabbiner schaut nicht in die Töpfe oder auf die Teller der Leute. Es kommt auf die eigene Überzeugung an. Wir sind alle Sünder, und nur Jahwe kann Sünden vergeben.“ Rachel Dror betont die Gleichheit von Menschen, unabhängig von Religion, Herkunft und Nationalität. Jeder müsse mit Würde und Respekt behandelt werden. „Wenn alle Menschen sich vertragen, wird der Messias kommen. Wir wissen nicht, wer er ist. Vielleicht wird sich herausstellen, dass es der Gleiche wie im Christentum ist.“


Rachel Dror, 1921 in Königsberg geboren, wanderte 1939 nach Palästina aus und entkam so der Shoa. 1957 kehrte sie nach Deutschland zurück und führt seit ihrem Ruhestand durch die Synagoge und erzählt an Schulen ihre Geschichte.


Das Innere der Stuttgarter Synagoge erinnert auch an das Schicksal der Juden während des Nationalsozialismus: Zwei Abschnitte einer Gedenktafel widmen sich den Konzentrationslagern und dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Rachel Dror erinnert an die Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen sowie geistig und körperlich Behinderten, die ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet worden sind. Auch die beiden dreieckigen Leuchter zur rechten und linken Seite des Rednerpults haben für die Erinnerung an den Holocaust eine große Bedeutung: Die Dreiecke stellen einen halben Davidstern dar, die gelbe Farbe entspricht der Färbung des sogenannten „Judensterns“, den die jüdische Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus tragen mussten. Diese sechs Lichter erinnern an die sechs Millionen ermordeten Juden. Sie sind heute in jeder Synagoge zum Gedenken an die Ermordeten zu finden.

Nadja Golitschek

Seit 1952 findet jährlich die „Woche der Brüderlichkeit“ statt. Sie wird vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ausgerichtet und hat den jüdisch-christlichen Dialog zum Ziel. In der Woche der Brüderlichkeit 2014 in Stuttgart wurden auch Moscheeführungen angeboten.

Mehr News

  • Datum: 30.04.2024

    „Stadtradeln“ mit Gottes Segen

    Die württembergische Landeskirche unterstützen die Aktion „Stadtradeln“ mit dem Landesarbeitskreis „Kirche und Sport“ und mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie dem Württembergischen Landessportbund. Unter dem Motto Achtsamkeit werden ein Andachtsentwurf und kostenfreie Aufkleber „Bleib behütet auf all deinen Wegen“ angeboten.

    Mehr erfahren
  • Datum: 30.04.2024

    So begeistert Gemeinde – sieben Projekte

    Unter dem Motto #gemeindebegeistert stellen Menschen auf dem Innovationstag Projekte vor, die auf neue Weise Kirche der Zukunft gestalten: Von „4 Pfarrer auf 1 Streich“ bis „Schwätzbänkle“. Wir haben gefragt, was die Ideen besonders macht und welche Vision dahintersteckt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 29.04.2024

    Video: „Gottesdienste sind fast wie Urlaub“

    Was macht an dem Beruf der Mesnerin besonders Spaß? Welche Herausforderungen bringt er mit sich, und warum fühlt er sich manchmal wie Urlaub an? Rundfunkpfarrerin Barbara Wurz hat bei SWR1 Begegnungen Gabi Sauer, die Mesnerin der evangelischen Veitskirche in Nehren, zu Gast.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    Zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Martin Rößler

    „Wir gratulieren Martin Rößler und wünschen ihm Gottes Segen. Einen passenderen Sonntag als diesen gibt es für Martin Rößler nicht: Sonntag Kantate, der das geistliche Singen in den Mittelpunkt stellt.“ Landesbischof Gohl gratuliert Prof. Dr. Martin Rößler zum 90. Geburtstag.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    „Das Gesangbuch ist ein Lebensbuch“

    „Singen ist Lebenshilfe. Das Gesangbuch ist mehr als eine Sammlung von Liedern für wechselnde Jahreszeiten und sonstige Anlässe. Das Gesangbuch ist ein Lebensbuch.“ Das sagt Landesbischof Gohl in seiner Predigt aus Anlass des 500-jährigen Jubiläums des evangelischen Gesangbuchs.

    Mehr erfahren
  • Datum: 26.04.2024

    „Wo wir der Hoffnung Stimme geben, wächst die Zuversicht“

    „Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt?!“ war das Motto des Herzschlaggottesdienstes in Nellmersbach, in dem Landesbischof Gohl am 21. April gepredigt hat. Hier finden Sie die Predigt zu einem Vers aus Psalm 18: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“.

    Mehr erfahren
  • Datum: 22.04.2024

    Innovationstag: Jetzt anmelden!

    Frische Ideen fürs Gemeindeleben: Unter dem Motto „#gemeindebegeistert – Kirche lebt, wo dein Herz schlägt“ veranstaltet die Landeskirche am 4. Mai einen großen Innovationstag. In Projektpräsentationen und Workshops gibt’s Austausch und Tipps. Jetzt anmelden

    Mehr erfahren
  • Datum: 22.04.2024

    KI in der Gemeindearbeit einsetzen

    Was ist Künstliche Intelligenz und was ist damit anzufangen? Eignet sich KI auch für die Gemeindearbeit und wo konkret kann sie dort zielgerichtet angewendet werden? Mit diesen Fragen befasst sich am 16. Mai ein Online-Seminar des Evangelischen Medienhauses.

    Mehr erfahren
  • Datum: 19.04.2024

    „Konfirmanden ist Glaube wichtiger als Geschenke“

    Frontalunterricht gibt es kaum noch im Konfi-Unterricht, sagt Prof. Dr. Wolfgang Ilg von der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg im Interview. Die Konfi-Arbeit sei nach wie vor das Angebot mit der größten Reichweite in der Evangelischen Kirche.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    „Kirche mit Kindern“ ist einfach lebendig

    Vom Kindergottesdienst zu einer Kirche für die ganze Familie: Lebendiger und spannender Gottesdienst mit neuen Herausforderungen. Wir haben Sabine Foth gefragt, wie sich die Kirche mit Kindern zu einer Familienkirche gewandelt hat und was ihr an der Arbeit besonders gefällt.

    Mehr erfahren
  • Datum: 18.04.2024

    Video: Multitalent mit Down-Syndrom

    Tamara Röske hat viele Talente: Schauspielern, Modeln und Leichtathletik – trotz Handicap. Die 28-Jährige hat das Down-Syndrom. Wie bringt sie alles unter einen Hut? Darüber spricht sie zusammen mit ihrer Mutter Antje mit „Alpha & Omega“-Moderatorin Heidrun Lieb.

    Mehr erfahren
  • Datum: 17.04.2024

    „Der Segen Gottes gilt uns allen“

    Mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche Mariaberg bei Gammertingen hat am 13. April die ökumenische Woche für das Leben begonnen. Sie stellt unter dem Motto die Lebenswirklichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener mit Behinderungen in den Mittelpunkt.

    Mehr erfahren
Mehr laden