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Landesbischof Gohl predigt am Reformationstag in Sulz

Für Gohl sind Luthers 95 Thesen der „Zündfunke für einen Glauben, der niemals fertig wird“

Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Am Reformationstag predigt Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in der Stadtkirche Sulz. Landesbischof Gohl erinnert an den historischen Moment am Vorabend von Allerheiligen 1517, als Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg schlug. Dies löste die Reformation aus und setzte eine umfassende Reform der Kirche in Gang.  

 

Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl
Landesbischof Ernst-Wilhelm GohlBild: Gottfried Stoppel

Landesbischof Gohl bezeichnet Luthers 95 Thesen als „Zündfunke für einen Glauben, der niemals fertig wird – mit Gott, der Welt und der eigenen Schuld. Evangelisch sein, heißt: Es ist anstrengend. Es ist sehr persönlich. Und es heißt: Glaube ist immer in Bewegung, im Fluss.“ Es gehe darum, sich auf den Kern von Luthers Botschaft zu besinnen. Der Reformator sei der Überzeugung gewesen, dass Religion eine Angelegenheit sei, die das ganze Leben betreffe. Die reformatorische Botschaft wäre missverstanden, so Gohl, wenn wir uns im Wissen um Gottes Gnade einrichteten und nichts mehr täten. 

Luther habe erkannt, so Gohl: „Gottes Gerechtigkeit ist ganz anders. Ohne jede Vorleistung schenkt uns Gott in Christus seine volle Anerkennung und Liebe. „Sola gratia“ – allein aus Gnade. Das ist Gottes Gerechtigkeit. (…) Mit dem Herzen wissen wir schon lange: Das Wesentliche im Leben ist Geschenk.“ 

Hier finden Sie den Volltext der Predigt von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in Sulz am Neckar am Reformationstag 2024 über Röm 3,21-24. Spontane Änderungen sind möglich, für Medienzwecke gilt das gesprochene Wort.

Liebe Schwestern und Brüder! 

Was am Vorabend von Allerheiligen 1517 geschah, bezeichnet die Luther-Biografin Lyndal Roper als „Zündfunken“ der Reformation: Luthers Anschlag der 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche in Wittenberg. Die näheren Umstände liegen im Dunklen. Zum Beispiel, ob Luther wirklich einen Hammer und Nägel bei sich hatte oder doch eher einen Leimtopf. Ebenso wo genau das große Blatt Papier an der Tür angebracht wurde. Was sicher ist: Luther versandte einen Text mit 95 Thesen am 31. Oktober 1517 an Erzbischof Albrecht. Und um diesen Text geht es. Mit den 95 Thesen startete die Reformation und setzte eine umfassende Reform der Kirche in Gang.  

Wie in jedem Jahr feiern wir am 31.10. diesen Zündfunken, den Start der Reformation. Wir würdigen Luther und seine Mitstreiter und alles, was sie für unseren Glauben an Aufbruch und Orientierung geleistet haben. 

Mit seinen 95 Thesen fasst Luther die Kritik an der Kirche seiner Zeit zusammen. Der erste Satz auf dem großen Blatt Papier lautet: “Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.”  

Liebe Schwestern und Brüder!  

Es lohnt sich, diesen ersten Satz der 95 Thesen genauer anzuschauen. Denn er enthält einen Impuls, der bis heute zentral ist für unseren evangelischen Glauben.  

Luther lebte in einer Zeit, die in einem Punkt unserer Zeit sehr ähnlich war. Religiöse Rituale waren wichtig. Sie sollen aber nicht den ganzen Alltag bestimmen. Viele Menschen heute lassen sich auf Religion ein, sofern sie nicht ihr ganzes Leben bestimmt. Damals ging es um die Form der Buße. Die katholische Kirche hatte den sogenannten Ablass eingerichtet. Mit dem Erwerb eines Ablass-Scheins war die Buße getan und man konnte wieder zur Tagesordnung übergehen. 

Luthers Kritik in der ersten These entzündete sich nicht an der Veräußerlichung der Bußpraxis, sondern an der Haltung: „Es muss auch einmal gut sein”. Schlussstriche unter die eigene Schuld. Haken daran. Weiter im Text. 

Luther stellt die Buße in einen anderen Zusammenhang. Er verweist auf Jesus, der gesagt hat: Das ganze Leben sei Buße.  

Das klingt protestantisch schwermütig. Am Abend des Reformationstags geht’s aber darum, sich auf den Kern von Luthers Botschaft zu besinnen. Luther ist der Überzeugung: Religion ist eine Angelegenheit, die das ganze Leben betrifft. Wenn mein Gewissen mich belastet, wenn ich angesichts des Leids angefochten bin, wenn ich mich frage, ob der Tod das große Nichts ist, dann sind das Fragen, die meine ganze Existenz durchdringen. Alles, was ich fühle, denke und entscheide.  

Deshalb sind Luthers 95 Thesen der Zündfunke für einen Glauben, der niemals fertig wird – mit Gott, der Welt und der eigenen Schuld. Evangelisch sein, heißt: Es ist anstrengend. Es ist sehr persönlich. Und es heißt: Glaube ist immer in Bewegung, im Fluss. 

Evangelisch sein, heißt aber auch, alles von der Gnade Gottes her zu verstehen und von der Freiheit eines Christenmenschen. Kein Wunder kreisen die Bibeltexte des Reformationstages alle um den Glauben, die Gnade Gottes und die Überwindung des Gesetzes als alleiniger Maßstab für das Handeln des Menschen. Die Befreiung und das Wovon wir befreit sind, müssen immer zusammengedacht werden. 

Szenenwechsel! 

Liebe Schwestern und Brüder! Eine Kollegin im Gemeindepfarrdienst brachte vor kurzem einen Hammer und Nägel in den Konfirmandenunterricht mit. Sie bat die Konfirmandinnen und Konfirmanden auf kleine Zettel zu schreiben, was gerade schief laufe in dieser Welt. Dann sollten die Jugendlichen den Zettel mit dem Hammer und einem Nagel an ein Brett im Gemeindehaus anbringen.  

Die Kollegin erzählte, die Jugendlichen hätten vieles aufgeschrieben, was auch Erwachsenen Sorgen mache. Da ging es um den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, um die Klimakrise und die vielen Beispiele für Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung.  

Nachdenklich wurden die Jugendlichen als sie die Zettel der anderen lasen und feststellten, dass auch Persönliches notiert wurde: Mehr miteinander in der Familie sprechen. Mehr Unterstützung, wenn es anderen schlecht geht. Keine verletzenden Sprüche. Keine Ausgrenzung.  

Auch in der Kirche läuft vieles schief. Wer wüsste das nicht?  

Ja, da läuft ziemlich vieles schief in unserer Welt. Wir wissen das genau. Und wir leben in einer Zeit, in der viele dieser Missstände schon lange bekannt sind. Und wir wissen auch, wie wir sie beseitigen könnten. Wir tun es aber nicht. „Das bringt ja eh nichts”, sagen manche. Andere sind von Hause aus bequem und wollen weder ihre Überzeugungen noch ihr Leben ändern. Und wieder andere regen sich über jeden Missstand auf. Für alles haben sie eine Erklärung und wissen sofort, was zu tun oder zu lassen ist. Die israelisch-argentinische Soziologin Eva Illouz nennt dieses Phänomen „Fast-Food-Denken“. Zuviel schnell geäußerte Meinung. Zu wenig Fakten. Zu schnell erklären, warum etwas sowieso nicht funktioniert. Viele Menschen werden über diesem Befund bitter. Sie lähmt, was geschieht und was unterlassen wird. Zukunftsverdrossenheit. 

Szenenwechsel! 

„Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienste gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.” 

Der Apostel Paulus schreibt diese Worte seinen Geschwistern in Rom. Dieser Abschnitt wurde zu einem der Schlüsseltexte der Reformation – zum Zündfunken. Martin Luther berichtet, wie es für ihn im Ringen mit dem Römerbrief zum Durchbruch kam: Unablässig habe er bei Paulus „angeklopft“. Er wollte endlich verstehen, was es mit der Gerechtigkeit Gottes auf sich habe. Ist Gott gerecht, indem er unsere Verdienste belohnt und uns für unsere Verfehlungen bestraft? So wie es unserem Denken entspricht.  

Aber worin unterscheidet sich dann das Evangelium vom römischen Recht mit seinem Grundsatz: Jeder so, wie er es verdient. Ist dann Evangelium „Frohe Botschaft“ oder nicht eher Drohbotschaft? Darum „klopfte“ Luther unablässig bei Paulus an. Und sein „Anklopfen“ hatte schließlich Erfolg. Luther erkannte: Gottes Gerechtigkeit ist ganz anders. Ohne jede Vorleistung schenkt uns Gott in Christus seine volle Anerkennung und Liebe. „Sola gratia“ – allein aus Gnade. Das ist Gottes Gerechtigkeit. 

Mit dieser Erkenntnis öffnet sich für Luther der Himmel. Er fühlt sich, als sei er „durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten“. Diese Gewissheit ist auch für uns Christinnen und Christen der Schlüssel zum Paradies. 

Szenenwechsel! 

Die Luther-Biografin Lyndal Roper hat diese reformatorische Entdeckung, die Luthers Leben für immer veränderte, in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Woher kam bei Luther dieses Ringen um den gnädigen Gott? Warum war es für Luther so wichtig, sich aus diesem Anspruch, diesem Messen nach Verdienst zu befreien? 

Roper erinnert an den Vater von Martin Luther: Hans Luther. Er war Bergmann im sächsischen Mansfeld. Sein ganzes Leben über hat er hart gearbeitet. Das hat Martin Luther geprägt. Luther wusste, in der Welt wird gerechnet, da zählt der Fleißige mehr als der Faule.  

Luther konnte Sätze sagen wie diesen: „Gott will (…) nicht, dass wir Sorgen und Arbeit sein lassen und wir wie müßige Wänste sind, die sitzen und warten, dass Gott ihnen eine gebratene Gans ins Maul fliegen lässt.” Die reformatorische Botschaft wäre missverstanden, wenn wir uns im Wissen um Gottes Gnade einrichten und nichts mehr tun. Etwas Sinnvolles in dieser Welt tun, das war Luther wichtig. Von ihm stammt auch die erste evangelische Berufsethik. Aber wir sollen nicht meinen, damit Gott auf unsere Seite ziehen zu können. Um seine Gunst zu buhlen. Das geht schief. 

Luther wusste von seinem Vater, wie die Arbeit im Bergwerk aussieht. Die Suche nach den wertvollen Erzen war vor allem eins: Glückssache.  

In einer Predigt über das Sorgen sagt Luther daher: „Schaut, wie es in den Bergwerken zugeht. Da hat man fleißig gegraben und gesucht. Und oft ist es so, da wo man das meiste Erz erhoffte, und meinte auf Gold zu stoßen, da findet man nichts oder es zerrinnt einem in den Händen. Und dann wieder an Stellen, die man für verloren hielt und liegen gelassen hatte, da findet man unversehens aufs Reichlichste. Summa: Es soll heißen, nicht gesucht, sondern beschert. Nicht gefunden, sondern zugefallen.” 

Dieses Bild vom Bergwerk bringt uns ganz nah an die Verheißung des Römerbriefes: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienste gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.” 

Luther hat die Befreiung, die in diesen Worten liegt, wie in einem Bergwerk freigelegt. Mit dem Herzen wissen wir schon lange: Das Wesentliche im Leben ist Geschenk.  

Bitterkeit, Neid und Wut haben ihre Wurzeln darin, dass ich meine, ich hätte nicht das, was mir eigentlich zusteht. Dieser Blick macht eng. Ich habe mir aber nicht verdient, dass ich lebe. Mein Leben wurde mir geschenkt. Und ich habe es mir nicht verdient, dass ich in Deutschland geboren bin und nicht etwa in Nordkorea. Auch das ist Geschenk. Ausdruck der Fülle Gottes. Dafür bin ich dankbar. Oder mit Luther gesprochen: Ohne Verdienst. Summa: Es soll heißen, nicht gesucht, sondern beschert. Nicht gefunden, sondern zugefallen. Amen. 

Amen. 


Hinweis für Kirchengemeinden

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