| Landeskirche

„Man muss nicht jedes Argument kennen“

Interview mit Agnes Kübler, Referentin für Populismus und Extremismus

Agnes Kübler, seit einigen Monaten landeskirchliche Referentin für die Themen Populismus und Extremismus, berät Gemeinden und kirchliche Mitarbeitende oder veranstaltet Workshops. Im Interview erklärt sie, was jede und jeder tun kann, wenn populistische Positionen verbreiten werden.

Agnes Kübler, 32, ist Referentin für die Themen Populismus und Extremismus bei der Landeskirche.Evangelische Landeskirche in Württemberg

Wenn in einer Gemeinde populistische Äußerungen getätigt werden: Was sollen Gemeindeglieder tun?

Agnes Kübler: Zuerst muss man den Populismus, also diese stark vereinfachenden, oft polemischen Äußerungen wahrnehmen, dann benennen und anschließend ins Handeln kommen. In Zeiten, in denen manche Debatten sehr hitzig geführt werden, kann schon das Wahrnehmen eine Herausforderung sein. Auch das Benennen kann schwierig sein – aber es lohnt sich. Denn es ist das wirksamste Mittel gegen Populismus.

Wenn es in Gemeinden deswegen Konflikte gibt, ist es wichtig, nicht wegzuschauen. Zum Beispiel bei Spannungen in einem Kirchengemeinderat: Je länger man versucht, das Problem zu ignorieren, desto größer wird es. Das behindert dann auch die andere Arbeit. Das Vertrauen, das man für das Ehrenamt benötigt, leidet und die Ehrenamtlichen geraten unter Stress. Hilfreich ist es, man bleibt mit den betroffenen Personen im Gespräch, schließt sich mit Gleichgesinnten zusammen und holt, wenn nötig, Beratung von außen.

Was kann man tun, um der Radikalisierung von Menschen vorzubeugen?

Agnes Kübler: Menschen radikalisieren sich oft aus einer persönlichen Krisenerfahrung heraus. Und genau da sehe ich auch eine große Stärke der Kirche: Sie begleitet Menschen in Krisensituationen, fängt sie auf und stärkt sie. Wenn das gelingt, ist auch die Radikalisierungsgefahr nicht mehr so groß. In Studien zeigt sich immer wieder, dass Menschen, denen Sozialvertrauen fehlt und die ein Gefühl von Kontrollverlust erleiden, anfälliger werden. Die Kirche eröffnet in den Gemeinden außerdem Räume, in denen man sich einbringen kann. Menschen, die die Erfahrung machen, dass sie gehört werden und Teil der Gesellschaft sind, sind weniger gefährdet, sich zu radikalisieren.

Was ist das Wichtigste, das Sie mit Ihren Workshops vermitteln wollen?

Agnes Kübler: Dass man nicht alles wissen muss, beispielsweise über eine bestimmte Verschwörungserzählung, um Haltung zu zeigen. Viele Menschen sind verunsichert, ob sie sich einmischen sollen. Natürlich ist es gut, sich darum zu bemühen, gut informiert zu sein, aber das bedeutet nicht, dass man jedes mögliche Argument kennen muss, um sich zu positionieren.

Ein besonders erschreckendes Erlebnis bei Ihrer Arbeit?

Agnes Kübler: Ich finde es traurig, zu hören, wie aufgrund von Verschwörungserzählungen oder populistischen Positionen Freundschaften auseinandergehen, Teile von Familien nicht mehr miteinander sprechen und Beziehungen kaputt gehen. Außerdem beschäftigt mich, dass es immer wieder Anfeindungen bis hin zu Drohschreiben oder Hassbotschaften gegenüber kirchlichen Engagierten gibt, die sich zum Beispiel für Geflüchtete einsetzen oder die Corona-Regelungen durchsetzen. Es ist sehr bedenklich, wenn die Spannungen an einen Punkt kommen, an dem kein gutes Miteinander mehr möglich ist.

Eine positive Erfahrung?

Agnes Kübler: Am Ende meines letzten Workshops mit internationalen Studierenden hat eine Teilnehmerin gesagt: „Ich kann ja total gut Kontra geben! Ich kann ja wirklich in einer Diskussion mit Fakten dagegenhalten. Das mache ich jetzt öfter.“ Sie ist vorher Diskussionen ausgewichen. Dass sie sich einmischt und mit Fakten gegen etwas argumentiert, hat nicht zu ihrem Selbstbild gepasst. Jetzt war sie sehr glücklich darüber, eine neue Möglichkeit für sich gefunden zu haben, weil sie die Chance hatte, einmal auszuprobieren, dagegenzuhalten. Das hat mich ermutigt.

Was kann jede und jeder Einzelne gegen die Ausbreitung von Populismus und Extremismus tun?

Agnes Kübler: Man sollte Nachrichten nicht unhinterfragt weiterleiten, zum Beispiel in Chatgruppen. Außerdem ist es wichtig, Quellen zu prüfen und keine Fake-News weiterzuverbreiten. Im persönlichen Gespräch lohnt es sich, zu widersprechen und Position zu beziehen. Und es ist wichtig, dass man sich einmischt, auch wenn man zum Beispiel auf der Straße Zeugin von rassistischen Anfeindungen oder eines rassistischen Übergriffs wird. Ich halte es auch für notwendig, da, wo man ihr begegnet, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu benennen.

Warum sollten wir Christinnen und Christen die Demokratie verteidigen?

Agnes Kübler: Die Demokratie funktioniert nicht perfekt, aber sie ist das beste politische System, das wir haben, und das einzige, das erlaubt, dass jede und jeder eine Stimme hat und als gleich geachtet wird. Wenn wir als Kirche davon ausgehen, dass alle Menschen gleichwertig sind, ist es diese Regierungsform, die am besten dazu passt.

Wie können wir mit Menschen umgehen, die uns gegenüber Vorurteile und Ressentiments oder Verschwörungstheorien äußern?

Agnes Kübler: Zuerst sollte man abwägen: Wie gut kenne ich die Person? In welchem Kontext wird etwas geäußert? Wer felsenfest einer Verschwörungserzählung anhängt, den wird man nur schwer erreichen. Wenn man mit der Person in einer Beziehung ist, weil es sich zum Beispiel um eine Person aus der eigenen Familie handelt, ist es wichtig, die Beziehung zu ihr aufrechtzuerhalten.

Man muss sich bewusst machen, dass man sie nicht mit einem Gespräch davon abbringen kann. Dafür braucht es lange, kontinuierliche Arbeit. In der politischen Bildung sagen wir: „Es ist ein Marathon, kein Sprint.“

Eine Strategie ist, dass man sich zum gemeinsamen Faktencheck verabredet. Man vereinbart ein Thema und bereitet sich darauf vor. Beide beschäftigen sich dann zusammen damit, auf welche Quellen sie sich berufen.

Oft ist es vielversprechender, auf die Beziehungsebene zu gehen und zu überlegen, was eine Person dazu bringt, die Verschwörungserzählung zu glauben. Man kann überlegen, ob man gemeinsam die Krise bearbeiten kann, die dahintersteckt.

Auf jeden Fall muss man dranbleiben und immer wieder nachfragen. Wenn es einem zu viel ist, weiter über das Thema zu sprechen, sollte man es sagen, und an diesem Tag einmal über etwas anderes reden.

Wann beginnen Menschen, Verschwörungstheorien zu glauben?

Agnes Kübler: Verschwörungserzählungen werden sehr attraktiv in Zeiten von Krisen, wenn Menschen das Gefühl haben, sie erleben einen Kontrollverlust. Sie haben den Eindruck, die Welt sei aus den Fugen, und wollen wieder Ordnung hereinbringen und Kontrolle erhalten. Verschwörungserzählungen erfüllen dann menschliche Grundbedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Erkenntnis und Verstehen oder nach einem positiven Selbstbild. Durch die Verschwörungserzählung haben die Menschen das Gefühl, sie wissen wieder, wo es lang geht und was als nächstes passieren wird. Und sie funktionieren so, dass es eine kleine Gruppe gibt, die das Ganze durchschaut. Wenn ich zu dieser Gruppe gehöre, habe ich ein Gefühl von Exklusivität, von Geheimwissen mit Vorsprung vor allen anderen – und das ist natürlich gut fürs Selbstwertgefühl.

Ob eine Person an Verschwörungserzählungen glaubt, ist nicht vom Bildungsabschluss abhängig. Die Menschen, die eine Verschwörungserzählung glauben, neigen eher dazu, noch andere zu glauben: Wenn ich einmal mit diesen alternativen Weltdeutungssystemen angefangen habe, mache ich auch eher damit weiter.

Welche Rolle spielt Populismus jetzt in der Corona-Pandemie?

Agnes Kübler: Populistinnen und Populisten nutzen bestimmte Verschwörungserzählungen bewusst, um politische Ziele zu erreichen. Die Erzählung vom „großen Austausch“ besagt zum Beispiel, dass die weißen Deutschen oder auch Europäerinnen oder Europäer durch nicht weiße Menschen häufig auch muslimischen Glaubens ersetzt werden sollen. Die Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurde damit vermischt. Die Corona-Pandemie wird zum Beispiel in der Neuen Rechten als Vorwand bezeichnet, damit im Hintergrund angeblich der „große Austausch“ vor sich gehen kann.

Wie spricht die Neue Rechte Christinnen und Christen an?

Agnes Kübler: Die Neue Rechte bezieht sich teilweise auf christliche Inhalte und Themen oder positioniert sich selbst als christlich, um ein konservativ christliches Milieu zu erreichen. Die Agenda ist also, über thematische Übereinstimmungen Menschen zu werben.

Was haben Sie sich für Ihre Aufgabe vorgenommen?

Agnes Kübler: In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg gibt es sehr viele tolle Projekte, engagierte Menschen, Kompetenz und gelebte Nächstenliebe. Ich möchte diejenigen, die sich in der Landeskirche einbringen, bei ihrem Engagement unterstützen. Die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen beinhaltet für mich, dass Rassismus und verschiedene Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verurteilt werden müssen und dass es eine Verantwortung gibt, den Auswirkungen für die Betroffenen entgegenzutreten und sie zu unterstützen.

Ich hoffe, dass …

Agnes Kübler: … wir nicht aufhören, uns zu positionieren, auch gegen rechts, und dass die aktuellen Spannungen in Deutschland nicht dazu führen, dass sich Menschen von der Politik abwenden und still und heimlich von der Demokratie verabschieden.


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