| Diakonie

Wenn bei der EVA die Nähmaschine losschnurrt

Jede Woche treffen sich in Stuttgart traumatisierte geflüchtete Menschen in einer Nähwerkstatt

Die Psychologische Beratungsstelle der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (EVA) behandelt traumatisierte Geflüchtete und Vertriebene sowie Migrantinnen und Migranten mit psychoreaktiven Störungen. Außerdem unterstützt sie die Personen durch zusätzliche Angebote wie Sprachkurse, Computerkurse, eine Malwerkstatt - und eine Nähwerkstatt. Ein Besuch.

Binta näht Blumen auf eine grüne Filzdecke.Evangelische Landeskirche in Württemberg

Unscheinbar ist sie, die Tür, die in einen großen Seminarraum der Psychologischen Beratungsstelle „PBV Stuttgart“ führt.

Drinnen sitzt Suzan (Name der Person geändert) an einem großen Tisch und baut eine Nähmaschine auf. Ob es eine Einfädelhilfe gibt, fragt sie die ehrenamtliche Kursleiterin. Die gibt es nicht, aber die Kursleiterin beugt sich selbst über die Nähmaschine. Zusammen fädeln die beiden Frauen das dünne Garn in die Maschine ein. Die Nähmaschine schnurrt los.

Zuerst testen, dann loslegen

Suzan legt ein rotes Stoffstück in die Maschine und macht einen Testlauf. Doch die Naht ist nicht gerade. Sie probiert es mehrmals. Gerade.

Sie ist 48 Jahre alt und hat eine schwere Augenkrankheit. Seitdem sie Mitte 20 ist, bildet sich ihre Netzhaut zurück, „und die Netzhaut des Auges kann man nicht ersetzen“, sagt sie.

Da sie nur dunkle Farben sehen kann, lässt sie die anderen weg. Weiß sieht sie gar nicht mehr. Und während man bei normaler Sehkraft einen Winkel von ungefähr 180 Grad erfasse, erklärt sie, könne sie nur ein Blickfeld von ungefähr drei Grad sehen. „Jeder macht hier nur das, was er kann“, erklärt die Leiterin des Kurses. Und die anderen Teilnehmerinnen helfen ihr, wenn etwas nicht klappt.

Suzan näht Bilder auf viereckige Stoffstücke.Evangelische Landeskirche in Württemberg

Ein Mann betritt die Nähwerkstatt, in der Hand eine kaputte Hose

Ein Mann kommt herein und zeigt der Kursleiterin eine helle Hose, die geflickt werden muss. Das geht auf Spendenbasis. Er wirft Geld in ein Sparschwein. Gleich danach kommt eine Frau zur Tür herein und bringt einen weißen Vorhang mit. Mit dem Geld gehen die Frauen und Männer der Nähwerkstatt einmal im Jahr zusammen essen.

Binta war lange krank und kommt zum ersten Mal wieder in die Nähwerkstatt

Die Tür geht auf. Binta, eine 28-jährige Frau, betritt den Raum und legt ihr Handy weg. Sie war krank und lag vier Wochen in der Klinik. „Wie geht es dir?“, begrüßt die Kursleiterin sie herzlich. „Willst du einen Tee trinken? Etwas essen?“

Binta strahlt und sucht aus mehreren Stoffstücken auf dem Tisch eine grüne Decke aus. Zuerst zeichnet sie eine Linie vor. Dann holt sie Faden und Nadel und beginnt, konzentriert eine Blume auf den Stoff aufzunähen.

Suzan bewegt sich mit einem Blindenstock durch den Alltag

In der Zwischenzeit hat Suzan die Nähmaschine gewechselt, mit der neuen Nähmaschine kann sie grobere Stoffe nähen. Auf einen viereckigen Stoff näht sie ein Bild. Daraus wird vielleicht mal eine Decke.

Sie hat das Nähen auf der Hauswirtschaftsschule gelernt. Aber ihre Mutter war früher Nählehrerin in der Türkei, erzählt sie.

Durch den Alltag bewegt sich Suzan mit einem Blindenstock, der an der Wand lehnt. Die alleinerziehende Mutter von drei Söhnen, 28, 19 und 17, ist von Tuttlingen nach Stuttgart gezogen, weil es hier einfacher für sie ist, sich durch die Stadt zu bewegen, zum Beispiel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ihr mittlerer Sohn wohnt bei ihr. Oma wird sie auch schon.

Handgemachte Taschen: Was hier hergestellt wird, wird manchmal auch verkauft.Evangelische Landeskirche in Württemberg

Taschen aus altem Jeansstoff

Auf dem Tisch hat die Kursleiterin Jeanstaschen ausgebreitet. Binta holt eine Tasche und zeigt auf eine Blume aus Jeansstoff. Sie hat sie genäht.

„Es gibt Menschen, die auf der Flucht in der Textilindustrie in der Türkei nähen lernen“, sagt Torsten Licker, studierter Industriedesigner und Mitarbeiter der Psychologischen Beratungsstelle. Ein Patient aus Kamerun könne Nähmaschinen reparieren. „Wir wollen die Talente nutzen, die die Menschen mitbringen“, erklärt er. Binta hat das Nähen mit Hand und an der Nähmaschine in der Nähwerkstatt gelernt. Im Februar 2020 migrierte sie mit ihrem Mann aus Gambia nach Stuttgart. Seit März des Jahres besucht sie die Gruppe.

Eine der Frauen bringt einen Bettbezug mit. Er muss geflickt werden. Sie sieht aber zu schlecht, um ihn selbst zu nähen.Evangelische Landeskirche in Württemberg

Vertrauen erlernen

In der Nähwerkstatt stellen die Frauen und Männer Decken her, sie schneidern Taschen aus altem Jeansstoff, besticken kleine Beutel mit Blumenmustern, nähen Mäppchen und Nähsets. Bei Bedarf werden auch Hemden, Hosen und Röcke gegen eine kleine Spende gebügelt. Vor Corona haben die Schneiderinnen und Näherinnen ihre Artikel schon auf dem vorweihnachtlichen Basar der EVA verkauft.

Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind in therapeutischer Behandlung und besuchen zusätzliche Angebote wie die Nähwerkstatt. „Jeder sucht sich ein Angebot aus, das ihr oder ihm Spaß macht“, sagt Torsten Licker. Bei anderen ist die Behandlung bereits abgeschlossen oder sie kommen zusammen mit Familienangehörigen oder Freunden, weil es ihnen so leichter fällt.

„Menschen, die traumatische Dinge erlebt haben, haben jegliches Vertrauen zu anderen Menschen verloren, wenn diese Erfahrungen durch andere Menschen verursacht wurden“, erklärt Licker. Bei den Angeboten der Psychologischen Beratungsstelle könnten sie in einem geschützten Umfeld wieder Vertrauen erlernen und würden zugleich mit Menschen in Kontakt kommen, die Ähnliches durchlebt hätten. „Außerdem haben viele Menschen, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, sehr große Probleme, sich zu konzentrieren oder Neues zu erlernen." Auch das werde durch die Aktivitäten deutlich verbessert. Das Wichtigste sei aber, dass sie dort die Möglichkeit hätten, „wieder Normalität zu erfahren“.


Über die Nähwerkstatt

  • Die Psychologische Beratungsstelle (PBV) der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (EVA) ist ein Zentrum der Beratung, Begutachtung und Psychotherapie für Überlebende traumatischer Gewalt.
  • Dort werden Patientinnen und Patienten mit psychischen Traumafolgestörungen ärztlich und psychologisch behandelt, besonders Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten. In Einzelfällen werden dort auch Deutsche therapiert. Ein kleiner Teil der Personen, die die Nähwerkstatt oder die anderen therapiebegleitenden Angebote besuchen, hat aber keinen Bedarf für ärztliche oder psychologische Behandlung oder die Männer und Frauen haben die Therapie in der PBV schon länger beendet.
  • In einem PC-Kurs erlernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer alltägliche Fähigkeiten, wie Lebensläufe zu schreiben oder Online-Bewerbungen per E-Mail zu verschicken. Zum Deutsch-Konversationskurs gehen Patienten, die nie lesen und schreiben gelernt haben. Es treffen sich außerdem Gruppen zum Malen und Zeichnen, zum Selbstverteidigungs- und Fitnesstraining und es werden regelmäßig Führungen und Ausflüge in die Region angeboten, um die neue Heimat besser kennenzulernen.

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