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Lage der Flüchtlinge auf Lesbos: „Eine humanitäre Katastrophe“

Interview mit einem württembergischen Theologiestudenten vor Ort

Max Weber, 29-jähriger Theologiestudent aus Tübingen, ist zurzeit auf Lesbos vor Ort und berichtet im Gespräch mit elk-wue.de von seinen Eindrücken rund um das abgebrannte Flüchtlingslager Moria und das Ersatzlager Kara Tepe. Unten auf dieser Seite finden Sie zudem einen Gebetsvorschlag.

Das abgebrannte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.
Das abgebrannte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.Max Weber

Wie erleben Sie die Situation auf Lesbos aktuell?

Die Lage auf Lesbos ist fragil und voller Leid. Viele Flüchtlinge leben seit Tagen ohne Dach über dem Kopf, ohne Sicherheit und ohne zuverlässige Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln. Zugleich hat die einheimische Bevölkerung die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Im Gespräch mit Einheimischen erlebe ich keine Aggression gegenüber den Flüchtlingen, aber die Menschen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Die massive Präsenz von Polizei und Militär trägt ebenfalls nicht zur Entspannung bei.

Max Weber, Referent für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft KDV und Frieden (EAK).
Max Weber, Referent für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft KDV und Frieden (EAK).privat

Auf Basis meiner Informationen schätze ich, dass bislang etwa die Hälfte der Menschen im Ersatzlager Kara Tepe untergekommen sind. Heute Morgen wurden weitere aus der Umgebung des ehemaligen Lagers in Moria von Sondereinheiten der Polizei abgeholt. Manche halten sich weiterhin direkt an der Straße unter Fetzen und Plastikplanen auf, die als Sonnenschutz gebaut wurden. Insgesamt ist die Lage äußerst unübersichtlich.

Wie läuft die humanitäre Hilfe im Moment?

Die Verteilung der Hilfsgüter ist sehr schwierig. Nicht nur, weil viele Flüchtlinge sich aus Angst vor Verhaftung und Pushback-Abschiebungen verstecken, sondern auch, weil die Behörden mit der Koordination der Hilfe überfordert sind. Ich sehe immer wieder, wie Transall-Maschinen landen und Hubschrauber zwischen Flughafen und Camp hin- und herfliegen, aber die Verteilung läuft sehr stockend. Es ist eine humanitäre Katastrophe!

Gab es ein in den letzten Tagen ein besonders eindrückliches Erlebnis?

Moria nach dem Brand zu erleben, war ein Schock und wird mich nicht mehr loslassen. Es tut weh, die Traurigkeit, Wut und Kraftlosigkeit in den Augen der Menschen zu sehen, die vor Krieg oder Verfolgung geflohen sind und nun wieder von vorne anfangen müssen. Ich spreche aber auch mit Menschen, die Monate lang in Moria eingeschlossen waren und sich nun wieder frei bewegen können – da ist auch Freude zu sehen, aber immer gemischt mit Angst und Unsicherheit.

Gestern habe ich in Moria einen 13-jährigen Jungen getroffen, der dort völlig allein mitten in Asche, Trümmern und Brandschutt saß. Er erzählte mir, dass er schon seit einem Jahr in Moria lebte und schon zuvor von Afghanistan in den Iran geflohen sei. Was hat dieser Junge schon alles durchgemacht? Solche Schicksale verschlagen mir den Atem.

Wie beurteilen Sie das Ersatzcamp Kara Tepe, das gerade entsteht?

Kara Tepe liegt direkt am Meer und ist ungeschützt dem Meltemi-Nordwind ausgesetzt. Ich fahre täglich am Lager vorbei. Zwar stehen schon viele Zelte, aber die Ausstattung mit Feldbetten und sanitären Anlagen ist noch sehr mager. Berichte von langen Schlangen bei der Essensverteilung sind vielfach zu hören. Dazu verdichten sich die Aussagen, dass es ein geschlossenes Camp werden wird – ein Gefängnis für alle 13.000 Menschen.

Gibt es auch andere Konzepte für Flüchtlingslager?

Lesvos Solidarity zum Beispiel betreibt das alternative Camp Pikpa. Dort leben rund 80 Erwachsene und 25 unbegleitete Minderjährige ziemlich selbstbestimmt in einfachen Hütten. Sie sind selbst initiativ geworden und kochen jeden Tag Mahlzeiten für hunderte Flüchtlinge außerhalb des Lagers und helfen bei der Verteilung von Wasser und Sanitärprodukten. Pikpa wird zwar von den Behörden nicht offiziell unterstützt, aber doch toleriert.

Was motiviert Sie persönlich zu Ihrem Einsatz?

Ich schöpfe meine Motivation aus meinem christlichen Glauben und meinem christlichen Verständnis von Solidarität. Die Diskrepanz zwischen den schönen Worten und dem konkreten Handeln der Politik ist für mich unerträglich. Die Betonung der Menschenrechte einerseits und zum Beispiel Rüstungsexporte in Krisenländer andererseits stehen für mich in einem unerträglichen Gegensatz. Dieses Unrecht schreit zum Himmel. Darauf aufmerksam zu machen, sehe ich als meine Aufgabe.

Ich mache viele deprimierende Erfahrungen. Doch es gibt auch schöne und bewegende Momente: Ein Danke von Geflüchteten für eine Flasche Wasser, die unermüdliche Arbeit vieler lokaler Organisationen und die breite Unterstützung unserer Forderungen helfen mir, mit der Arbeit weiterzumachen.

Welche Schritte wären jetzt am dringendsten?

Es darf jetzt kein zeitliches Nacheinander geben. Wir dürfen uns nicht auf humanitärer Hilfe für die obdachlosen Flüchtlinge ausruhen. Die europäischen Staaten müssen zugleich schnell und effektiv die schlimmste Not lindern, die unbürokratische Aufnahme der 13.000 Flüchtlinge vorbereiten und menschenwürdige Lösungen für die Grundprobleme der Migration finden. Ein geschlossenes Camp, wie wir es im Moment sehen, ist das Gegenteil davon. Und natürlich betrifft das nicht nur Lesbos sondern genauso die Lager auf anderen griechischen Inseln. 

Wie können württembergische Kirchengemeinden Ihre Arbeit unterstützen?

Im Moment ist es notwendig, die Geflüchteten mit Grundnahrungsmitteln sowie mit medizinischen und sanitären Produkten zu versorgen – hier hilft jede Spende. Wichtig sind auch Safe Spaces für besonders vulnerable Menschen wie zum Beispiel unbegleitete Minderjährige, die in anderen Camps Gewalt und Verfolgung erfahren würden. Lesvos Solidarity mit dem Camp Pikpa ist ein sehr gutes Beispiel. Diese und viele andere Hilfsorganisationen sind kontinuierlich auf finanzielle und ideelle Hilfe angewiesen.

Öffentliche Forderungen der Kirchenleitung an die Politik sind meines Erachtens ebenfalls hilfreich, ebenso wie die offene Solidarität mit den Geflüchteten sowie den Hilfskräften vor Ort.


Max Weber macht aktuell den Master in Religion und Kultur. Parallel studiert er Evangelische Theologie auf Pfarramt in Tübingen und steht auf der Landesliste der Württembergischen Landeskirche. Neben seinem Theologiestudium ist er als Referent für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) tätig und nimmt zum Zeitpunkt dieses Interviews (19. September 2020) an einer Bildungsreise des Deutschen Mennonitischen Komitees (DMFK) in Griechenland teil. Er verbringt dabei auch einige Tage auf Lesbos, um die Vernetzung mit anderen NGOs voranzutreiben, die sich für Flüchtlinge vor Ort und international einsetzen.


Gebetsvorschlag

Im Folgenden finden Sie einen Gebetsvorschlag von Sabine Dressler, der Referentin für Menschenrechte, Migration und Integration bei der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD):

 

Ich bete für Moria.

Nein, nicht für Moria, dieses Gefängnis, den Nicht-Ort, draußen im Meer,

Ort unserer Schande.

Ich bete für die Menschen, eingesperrt, ausgesetzt, Dreck im Dreck.

Kinder wachsen dort auf, zwischen Plastikplanen und Gewalt:

So ist das Leben. Die Welt, in der sie nicht willkommen sind.

Gott, schütze Du, was wir nicht schützen wollen.

 

Ich bete für die, die sie dennoch lieben.

Ihre Mütter und Väter, wenn es sie noch gibt

und für die, die ihnen ein wenig Wärme geben

da draußen, in der der Kälte,

im Gestank der Verachtung.

 

Ich bete für die,

die in der Asche sitzen,

und für die, die bei ihnen geblieben sind,

jetzt, nach dem Feuer von Moria - diesem erbärmlichen Fanal

für unser Zusehen und Wegsehen, für das Nichts-Tun.

 

Ich bete für die,

die uns der Mühe nicht wert sind.

Und für die, die sich auch jetzt noch herausreden,

und schachern um Menschenleben.

Gott, mische Dich ein, in unsere Unmenschlichkeit, in unser Versagen.

Komm, Gott – lass nicht zu, dass dies das Ende ist.

Amen.

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